Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
zwischen Westlern und Slavophilen versuchte D. deshalb, eine vermittelnde Position einzunehmen. Sie bestimmt auch die politische Richtung seiner Zeitschrift. Vremja musste ihr Erscheinen aber 1863 einstellen, weil ein Artikel im Zusammenhang mit dem polnischen Aufstand missverstanden wurde. Die Brüder D. beantragten sofort die Lizenz für die Nachfolgezeitschrift Ėpocha (Die Epoche).
Bis diese erteilt wurde, reiste D. erneut ins Ausland, dieses Mal, um eine junge Frau zu treffen, die er schon drei Jahre kannte: Apollinarija (Polina) Suslova. Die emanzipierte ledige Frau willigte ein, mit ihm nach Deutschland, in die Schweiz und nach Italien zu reisen. Auf dieser Reise verfiel D. jedoch dem Roulettespiel, weshalb Polina ihn in Turin verließ. Er selbst kehrte nach Petersburg zu seiner schwerkranken Frau zurück. Selbst krank schrieb er die Zapiski iz podpolja ( Aufzeichnungen aus dem Kellerloch , 1962), die 1864 in der neuen Zeitschrift erschienen. Held der Erzählung ist ein ressentimentbeladener Intellektueller, der in seiner Souterrainwohnung, abgeschnitten von der Welt, in einem großen Monolog vor sich hin philosophiert und dabei unwillentlich die intellektuellen Moden, besonders die materialistischen Ideen seiner Zeit, als Produkt seiner Rechthaberei bloßstellt. Viele Leser waren verärgert, D. aber hatte das Erfolgsrezept für seine kommenden Romane gefunden: aktuelle Debatten und gängige Überlegungen zu Lebenskonzepten seiner Helden anzustellen und zu erproben, welche Handlungsoptionen sich daraus ergeben. Die Helden »brüten« ihre Ideen »aus« und setzen sie in die Tat um. Dabei ist weniger die Handlung auf Wahrscheinlichkeit hin gestaltet als die jeweilige innere Disposition der Figuren. In diesem Kontext sprach D. selbst von einem »realeren Realismus«.
Im Frühjahr 1864 starb D.s Frau, wenig später sein Bruder. Der emotional eher labile Schriftsteller geriet in größere finanzielle Schwierigkeiten und musste sich von der Zeitschrift trennen. Mittellos und tief verschuldet verkaufte er das Recht an einem noch zu schreibenden Roman und brach zu Polina nach Paris auf. Sie kam ihm nach Wiesbaden entgegen, wo ihn erneut die Spielsucht packte. Polina reiste wieder ab, und D. kehrte nach Russland zurück.
In Eile schrieb er den Roman Prestuplenie i nakazanie (1866; Schuld und Sühne , 1960, später Verbrechen und Strafe ), der im Russkij vestnik in Fortsetzungen erschien und ein großer Erfolg wurde. Da die Notizhefte erhalten sind, lässt sich gut nachvollziehen, wie D. an dem Problem der Erzählinstanz gearbeitet hat und welche Bedeutung er ihr beimaß. Der Roman handelt im Kern von einem Bewusstsein: Ein Jurastudent will eine selbstentworfene Theorie durch einen Mord verifizieren, doch entgleitet ihm die Ausführung, so dass er einen zweiten Mord begeht. Dem Vertreter der Justiz gelingt es nicht, ihm die Morde zu beweisen, er selbst aber wird sich gewahr, dass er mit den Morden auf dem Gewissen nicht leben kann und nimmt die Bestrafung an. D. lässt den Helden den Roman nicht selbst erzählen, der Erzähler hat aber Zugang zum Bewusstsein des Helden, so dass der Leser auch eigentlich unrealistische Situationen (etwa dass ein Mörder und eine Prostituierte gemeinsam in der Bibel lesen, was schon von Vladimir Nabokov spöttisch kommentiert wurde) als stimmig annimmt. Der Held Raskolnikow ( raskol = Kirchenspaltung) ist ein Gespaltener: in seinem Selbstwert gespalten, ob er ein Übermensch ist oder nur eine Laus, sozial abgespalten, weil er fern der Familie und ohne wirkliche Freunde in einem kleinen Zimmer eingeschlossen ist, als Intellektueller vom Volk abgetrennt, als Atheist von Gott. Auch der Begriff ›Prestuplenie‹ (Übertretung) des Titels ist vielschichtig: Im Töten überschreitet Raskolnikow nicht nur eine gesetzliche, sondern auch eine ethische Grenze, und in seiner Theorie vom Übermenschen versucht er, die Gattungsgrenze zu überschreiten. Da dies in der herkömmlichen Übersetzung des Titels »Schuld und Sühne« nicht deutlich wird, ist die neuere Variante »Verbrechen und Strafe« vorzuziehen.
Um seinen Vertrag von 1864 einzulösen, diktierte D. im Oktober 1866 in nur 26 Tagen einer 20jährigen Stenographin, Anna Snitkina, den Roman Igrok ( Der Spieler. Aus den Erinnerungen eines jungen Mannes , 1890), in dem er seine Spielsucht zum Thema macht. Aus der Zusammenarbeit mit Anna wurde gegenseitige Zuneigung, und D. heiratete sie vier Monate später. Sie brachte etwas Ruhe in
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