Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Lob oder gar seine Umarmungen zu rechnen. Und niemals, niemals mich zu einem Vorwurf herabzulassen! War es denn seine Schuld, daß ich mich in ihn verliebt und ihn zu einem phantastischen Ideal erhoben hatte? Vielleicht hatte ich ihn sogar überhaupt nicht geliebt! Sein origineller Verstand, sein interessanter Charakter, seine Abenteuer und Intrigen, auch die Tatsache, daß meine Mutter zu ihm gehörte – das alles schien mich nicht länger zu versöhnen; meine zusammenphantasierte Puppe war zerschellt, das genügt, und ich konnte ihn vielleicht gar nicht mehr lieben. Also, was hielt mich noch, warum bin ich hängengeblieben? Das war die Frage. Am Ende sah es ganz so aus, daß ich der Dumme war, ich, und sonst niemand.
Aber da ich von anderen Redlichkeit verlange, muß ich auch selbst redlich sein: Ich muß bekennen, daß das in meine Tasche eingenähte Dokument in mir nicht allein den heißen Wunsch geweckt hatte, Werssilow zu Hilfe zu eilen. Inzwischen weiß ich das nur zu genau, wiewohl ich schon damals bei diesem Gedanken errötete. Eine Frau schwebte mir vor, ein stolzes Geschöpf der großen Welt, der ich von Angesicht zu Angesicht begegnen würde; sie würde mich verachten, sich über mich lustig machen wie über eine kleine Maus, ohne auch nur zu ahnen, daß ich der Herr und Gebieter ihres Schicksals war. Dieser Gedanke berauschte mich schon in Moskau und ganz besonders im Eisenbahnwaggon, während ich hierherreiste; das habe ich schon oben gestanden. Jawohl, ich habe diese Frau gehaßt, aber gleichzeitig in ihr mein Opfer geliebt, und all das ist die reinste Wahrheit, all das war Wirklichkeit. Aber es war so kindisch, wie ich es nicht einmal von einem solchen Subjekt (wie ich es bin) erwartet hätte. Ich schildere jetzt meine damaligen Gefühle, das heißt das, was mir damals durch den Kopf ging, damals, als ich in der Kneipe unter der Nachtigall saß und den Entschluß faßte, noch am selben Abend endgültig mit ihnen zu brechen. Der Gedanke an die heutige Begegnung mit dieser Frau überflutete plötzlich mein Gesicht mit Schamesröte. Eine schmähliche Begegnung! Ein schmählicher, dümmlicher Eindruck, vor allem der sprechendste Beweis meiner Unfähigkeit! Er bewies nur, so habe ich damals gedacht, daß ich außerstande sei, selbst den primitivsten Verlockungen zu widerstehen, während ich selbst vorher bei Kraft schwadroniert hatte, ich hätte meinen »Ort«, das heißt meine Sache, und daß mir sogar drei ganze Leben nicht ausreichen würden. Ich hatte das ziemlich stolz gesagt. Daß ich meine eigene Idee aufgab und mich in Werssilows Angelegenheiten einmischte – das ließe sich noch irgendwie entschuldigen; aber daß ich, wie ein aufgeschreckter Hase, Haken schlug und mich auf allen möglichen Unsinn einließ – das war pure Dummheit. Was zum Teufel hatte mich veranlaßt, Dergatschow zu besuchen und mich dort mit meinen Dummheiten aufzuspielen, da ich doch längst eingesehen hatte, daß ich niemals vernünftig und geordnet etwas vorzubringen vermag und mit meiner Schweigsamkeit den vorteilhaftesten Eindruck mache? Und dann mußte ich mir gefallen lassen, daß ein Wassin mich damit tröstete, ich hätte »noch fünfzig Jahre vor mir und somit keinen Grund, etwas zu bereuen«. Sein Einwand war ausgezeichnet, zugegeben, und machte seinem unbestreitbaren Verstand alle Ehre; er ist ausgezeichnet, weil er ganz einfach ist, und das ganz Einfache kommt stets als letztes zur Geltung, wenn alles Klügere und Dümmere durchprobiert ist; aber ich hatte mir schon selbst diesen Einwand gemacht, schon früher als Wassin; dieser Gedanke war in mir vor über drei Jahren aufgetaucht; noch mehr, auf ihn geht zum Teil »meine Idee« zurück. Das war es, was mir damals in der Kneipe durch den Kopf ging.
Es war mir ganz elend zumute, als ich, von den vielen Fußmärschen und auch vom Grübeln todmüde, abends, bereits gegen acht, beim Semjonowskij Polk ankam. Es war schon richtig dunkel, und das Wetter hatte umgeschlagen; es war trocken, aber der üble Petersburger Wind hatte sich erhoben, durchdringend und scharf, fiel mir in den Rücken und wirbelte ringsum Staub und Sand auf. Wie viele düstere Gesichter unter dem einfachen Volk, das nach Arbeit und Gewerbe in seine Winkel zurückeilte! Jedes Gesicht war von einer eigenen düsteren Sorge gekennzeichnet, und vielleicht kein einziger gemeinsamer, alle einigender Gedanke in dieser ganzen Menge! Kraft hatte recht: Alle strebten auseinander. Ein kleiner Junge lief
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