Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
daß Werssilow mich mit »du«, sie aber mit »Sie« ansprach. Ich hatte mich schon früher darüber gewundert und es nicht zu ihren Gunsten ausgelegt. Jetzt aber gingen mir die Augen auf – und die eigentümlichsten Gedanken, einer nach dem anderen, zogen mir durch den Kopf. Ich blieb sehr lange auf meinem Platz sitzen, bis zum Eintreten der Dunkelheit. Auch an meine Schwester dachte ich …
Ich war an einem schicksalhaften Punkt angelangt. Ich mußte mich, koste es, was es wolle, entscheiden! Sollte ich unfähig sein, einen Entschluß zu fassen? Sollte ein Bruch mit ihnen so hart sein, zumal sie selbst sich nicht viel aus mir machten? Meine Mutter und meine Schwester? Aber die beiden würde ich in keinem Fall verlassen – wie sich die Sache auch entwickeln sollte.
Es stimmte, daß das Auftauchen dieses Mannes in meinem Leben, wenn auch nur für einen einzigen Augenblick, noch dazu in meiner frühesten Kindheit, jener fatale Anstoß gewesen war, mit dem mein Bewußtsein erwachte. Wäre er mir damals nicht begegnet – mein Verstand, meine Denkart, mein Schicksal wären gewiß anders geworden, unbeschadet meines vom Schicksal vorherbestimmten Charakters, der mir, trotz allem, geblieben wäre.
Aber nun stellte sich heraus, daß dieser Mann nur mein Traum war, ein Traum meiner Kindertage. Ich war es selbst, der ihn sich so zurechtgedacht hatte, aber in Wirklichkeit erwies er sich als jemand anderer, der so tief unter meinem Phantasiegebilde stand! Ich glaubte, zu einem reinen Menschen zu kommen, aber nicht zu diesem. Warum hatte ich mich in ihn verliebt, einmal für immer, im Bruchteil eines Augenblicks, als ich ihn damals, in meiner frühesten Kindheit, gesehen hatte? Dieses »für immer« muß aufgehoben werden. Ich werde irgendwann, bei Gelegenheit, unsere erste Begegnung beschreiben: eine jener läppischen Geschichten, die zu nichts führen. Aber in meinem Falle führte sie zu einer ganzen Pyramide. Ich begann diese Pyramide noch unter der Kinderbettdecke, wenn ich beim Einschlafen weinen und träumen konnte – wovon? – das weiß ich nicht. Davon, daß man mich verlassen hatte? Davon, daß ich gequält wurde? Aber man quälte mich gar nicht so lange, alles in allem nur zwei Jahre, in der Pension Touchard, in die er mich damals gesteckt hatte, um für immer abzureisen. Dann quälte mich niemand mehr; sogar im Gegenteil, ich war es, der meine Kameraden mit hochmütigem Blick maß. Und ich kann auch das Flennen der Mitleid heischenden Waisen nicht leiden! Es gibt auch nichts Abstoßenderes, als wenn Waisen oder uneheliche Kinder, alle diese Ausgestoßenen und Minderwertigen, mit denen ich trotz allem nicht das geringste Mitleid empfinde, sich plötzlich vor dem Publikum feierlich aufpflanzen und kläglich, aber doch nachdrücklich anstimmen: »Oh, seht, was man uns angetan hat!« Ich würde solche Waisen züchtigen. Niemand unter diesen Routiniers würde einsehen, daß es zehnmal vornehmer wäre, den Mund zu halten, als zu plärren und sich zu einer Klage herabzulassen. Fängst du aber damit an, so hast du, Kind der Liebe, dein Los verdient. Das ist eben meine Ansicht!
Es war nicht lächerlich, daß ich früher »unter der Bettdecke« geträumt habe, aber daß ich seinetwegen hierhergereist bin, wiederum um dieses ausgedachten Mannes willen, das ist wirklich lächerlich, zumal ich meine wichtigsten Ziele beinahe aus den Augen verloren habe. Ich kam, um ihm im Kampf gegen Verleumdung beizustehen und seine Feinde zu vernichten. Jenes Dokument, von dem Kraft gesprochen hatte, jenes Schreiben dieser Frau an Andronikow, das sie so fürchtete, das ihr Schicksal aus der Bahn werfen und sie an den Bettelstab bringen könnte, das sie bei Werssilow vermutete – dieses Schreiben war nicht bei Werssilow, sondern bei mir, eingenäht in meiner Seitentasche! Ich hatte es selbst eingenäht, und niemand auf der ganzen Welt wußte davon. Weshalb die romantische Marja Iwanowna, der das Dokument zur »Aufbewahrung« anvertraut worden war, es für angebracht hielt, es mir und keinem anderen auszuhändigen, das war ihre Sache und ihr freier Wille, und ich bin auch nicht imstande, es zu erklären; vielleicht würde ich bei passender Gelegenheit darauf zu sprechen kommen; aber der Versuchung, mit dieser unverhofften Waffe in der Hand in Petersburg zu erscheinen, konnte ich nicht widerstehen. Natürlich nahm ich mir vor, diesem Menschen in aller Heimlichkeit zu helfen, ohne hervorzutreten, ohne mich zu ereifern, ohne auf sein
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