Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
euch, intrigiert, bringt euch um – was geht’s mich an?«
»Bleiben Sie noch«, sagte er plötzlich, als wir schon an der Tür standen.
Ich wunderte mich ein wenig, ging zurück und setzte mich wieder. Kraft nahm mir gegenüber Platz. Wir lächelten uns unbestimmt zu, ich sehe das alles jetzt noch vor mir. Ich weiß auch noch genau, daß ich mich ein wenig über ihn gewundert habe.
»Wissen Sie, Kraft, mir gefällt an Ihnen, daß Sie ein so höflicher Mensch sind«, sagte ich plötzlich.
»Ja?«
»Es fällt mir auf, weil ich es selten fertigbringe, höflich zu sein, obwohl ich es so gern fertigbringen möchte … Na ja, vielleicht hat es sogar etwas für sich, daß die Menschen einander kränken: Zumindest erlösen sie sich gegenseitig von dem Unglück, einander zu lieben.«
»Welche Tageszeit lieben Sie am meisten?« fragte er, offensichtlich hatte er mir nicht zugehört.
»Welche Tageszeit? Weiß ich nicht. Den Sonnenuntergang mag ich nicht.«
»Ach ja?« fragte er auffällig interessiert, versank aber gleich wieder in Gedanken.
»Sie haben vor, wieder zu verreisen?«
»Jawohl … Ich werde verreisen.«
»Bald?«
»Bald.«
»Braucht man, um nach Wilna zu kommen, einen Revolver?« fragte ich ohne den leisesten Hintergedanken: sogar völlig gedankenlos! Ich fragte, weil mein Blick den Revolver gestreift hatte und weil ich um einen Gesprächsstoff verlegen war.
Er wandte sich um und sah den Revolver aufmerksam an.
»Nein, einfach so, aus Gewohnheit.«
»Wenn ich einen Revolver besäße, dann würde ich ihn hinter Schloß und Riegel verwahren. Wissen Sie, er ist, bei Gott, eine große Versuchung! Ich glaube vielleicht nicht an epidemische Selbstmorde, aber wenn man so ein Ding ständig vor Augen hat, dann muß es wirklich Minuten geben, in denen die Versuchung groß ist.«
»Sprechen Sie nicht davon«, sagte er und erhob sich plötzlich von seinem Stuhl.
»Ich spreche nicht von mir«, fügte ich hinzu, mich ebenfalls erhebend. »Dazu werde ich ihn nie gebrauchen. Wenn ich auch drei Leben vor mir hätte, würde es mir nicht reichen.«
» Leben Sie mehr «, die Worte schienen sich ihm gleichsam zu entringen.
Er lächelte zerstreut und schritt, es war merkwürdig, einfach mir voraus ins Vorzimmer, als wollte er mich verabschieden, was ihm selbst, versteht sich, nicht bewußt war.
»Ich wünsche Ihnen allen erdenklichen Erfolg, Kraft«, sagte ich noch, bereits im Treppenhaus.
»Meinetwegen«, antwortete er mit fester Stimme.
»Auf Wiedersehen!«
»Auch dies, meinetwegen.«
Ich erinnere mich an seinen letzten Blick, den er auf mich richtete.
III
Das war also der Mann, an den ich so viele Jahre mit Herzklopfen gedacht hatte! Was hatte ich eigentlich von Kraft erwartet, welche weiteren Aufklärungen?
Als ich Kraft verließ, war ich sehr hungrig: Der Abend war bereits angebrochen, und ich hatte nicht zu Mittag gegessen. Also betrat ich sofort, auf der Petersburger Seite, auf dem Bolschoj Prospekt, ein bescheidenes Lokal, um dort vielleicht zwanzig, aber auf keinen Fall über fünfundzwanzig Kopeken auszugeben – mehr hätte ich mir damals unter keinen Umständen genehmigt. Ich ließ mir eine Suppe bringen und wandte mich, ich weiß es noch genau, als ich sie gegessen hatte, dem Fenster zu; der Raum war sehr voll, es roch nach verbrannter Butter, nach Gasthaus-Servietten und Tabak. Es war abscheulich. Über meinem Kopf klopfte eine stimmlose Nachtigall mit ihrem Schnabel auf den Boden ihres Käfigs, melancholisch und nachdenklich. In dem anliegenden Billardzimmer ging es laut zu, ich aber blieb immer noch sitzen und hing meinen Gedanken nach. Der Sonnenuntergang (warum hatte sich Kraft so gewundert, daß ich den Sonnenuntergang nicht mag?) weckte in mir neue und irgendwie unerwartete Empfindungen, die gar nicht hierhergehörten. Ich sah die ganze Zeit den stillen Blick meiner Mutter vor mir, ihre lieben Augen, die nun schon einen ganzen Monat so scheu auf mich gerichtet waren. In der letzten Zeit war ich zu Hause sehr grob aufgetreten, besonders ihr gegenüber; ich hatte eigentlich vorgehabt, Werssilow gegenüber grob aufzutreten, es aber nicht gewagt und statt dessen, auf meine niederträchtige Weise, sie gewählt und sie sogar völlig eingeschüchtert. Wie oft hatte sie mir beim Erscheinen von Andrej Petrowitsch einen flehentlichen Blick zugeworfen, aus Furcht vor einer Ausfälligkeit meinerseits … Es war sehr eigentümlich, daß mir erst jetzt, in diesem Lokal, zum ersten Mal auffiel,
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