Ein guter Blick fürs Böse
Arbeit, Mr. Ross«, sagte er schließlich.
»Dann sollten wir bald anfangen. Ich möchte, dass Sie als Erstes herausfinden, welchen Fall Mr. Jonathan Tapley am Tag der Ermordung seines Cousins vor Gericht vertreten hat. Finden Sie heraus, wann die Verhandlung zu Ende war und ob es Zeugen gibt für seinen Verbleib im Anschluss daran.«
»Bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Morris. »Aber er müsste schon ein ziemlicher Idiot sein, wenn er angibt, vor Gericht gewesen zu sein, falls er an diesem Tag überhaupt nicht dort war.«
»Ich sage ja nicht, dass er am fraglichen Tag überhaupt nicht dort war. Mich interessiert im Grunde genommen nur, wann genau er zum letzten Mal im Gebäude gesehen wurde. Falls ich Recht habe – das heißt falls Mrs. Jameson Recht hat – und Tapley bereits um kurz nach drei Uhr nachmittags vor ihrem Haus auf und ab gewandert ist … Wir müssen davon ausgehen, dass es auch halb vier gewesen sein könnte. Wie dem auch sei, falls Tapley dort war, dann folgt daraus, dass er zur fraglichen Zeit nicht im Gerichtsgebäude gewesen sein kann. Anders herum gesagt: Falls er nicht im Gerichtsgebäude war, könnte er durchaus vor Mrs. Jamesons Haus auf und ab marschiert sein.«
»Sehr wohl, Sir. Wo finde ich Sie – falls nötig, heißt das?«
»Ich werde Dr. Harper aufsuchen. Anschließend bin ich wieder hier im Yard.«
Er machte sich an die Arbeit, und ich brach ebenfalls auf.
Durch eine jener Launen des Zufalls – die einen, zumindest was Ermittlungen angeht, stets in eine Richtung führen, die man nicht erwartet – fand ich mich auf dem Rückweg nach Wapping wieder. Nachfragen im Krankenhaus, wo Harper normalerweise arbeitete, ergab, dass Harper von der Flusspolizei herbeigerufen worden war. Jemand war ertrunken.
Schon bald darauf fand ich mich in der Bruchbude wieder, die sich hochtrabend »Leichenhaus« nannte und eigens für die vorübergehende Verwahrung von Ertrunkenen aus der Themse genutzt wurde. Der jüngste Zugang war die Leiche einer jungen Frau, die darauf wartete, von Harper seziert zu werden. Der Arzt stand mit einem Skalpell in der Hand über ihr, und ein Assistent war bei ihm.
»Ah, Dr. Harper!«, rief ich ihm zu. »Tut mir leid, Sir, wenn ich Sie stören muss! Ich bin nur froh, dass Sie noch nicht angefangen haben.« Das entsprach der Wahrheit. »Könnte ich Sie auf ein Wort sprechen?«
»Wenn es nicht lange dauert«, erwiderte Harper. Er deutete auf die Leiche vor sich auf dem Tisch. »Das hier sieht ohnehin nach Suizid aus. Gut genährt, gut gekleidet, keine Flicken, nichts verwaschen.« Er deutete auf den Haufen durchnässter Kleidungsstücke auf einer Arbeitsfläche neben dem Tisch. »Die Hände …« Er hob eine Hand der Ertrunkenen und drehte mir die Handfläche entgegen. »Sie hat in ihrem ganzen Leben noch nicht einen Tag körperlich gearbeitet. Die gleiche alte Geschichte wie immer, wage ich zu behaupten. Verführt und sitzen gelassen. Sie ist schwanger, jede Wette.« Überraschend behutsam legte er die Hand der Toten zurück auf den Tisch.
Wir entfernten uns ein paar Schritte, und der Assistent verließ taktvoll den Untersuchungsraum.
»Dr. Harper, Sie erinnern sich bestimmt an jenen Abend, als ich Sie vom Essen weg zu einem Mord in der Nähe der Waterloo Station riefen ließ«, begann ich. »In der gleichen Straße, in der meine Frau und ich wohnen?«
»Natürlich«, sagte Harper und musterte mich misstrauisch. »Sie wollen doch nicht etwa, dass ich eine zweite Obduktion vornehme? Ich habe einen sehr anstrengenden Tag vor mir, Inspector. Sobald ich hier fertig bin, wartet bereits der nächste Fall auf mich. Das Opfer hat sich angeblich erschossen. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein Toter nachträglich selbst erschossen hat, nicht wahr?«
»Nein, Doktor, es wäre nicht das erste Mal. Was den Leichnam angeht, zu dem ich Sie in der fraglichen Nacht rufen ließ …«
»Ah, richtig«, sagte Harper. »Die Todesursache war eindeutig.«
»Wir haben das Opfer gestern beerdigt. Beziehungsweise seine Familie hat es getan. Nein, ich rechne nicht damit, dass es zu einer Exhumierung kommen wird. Wir sind uns einig, was die Todesursache angeht.«
»Gut«, sagte Harper. »Es wird nämlich schwieriger, wenn sie erst einmal für eine Weile im Boden gelegen haben.« Er runzelte die Stirn. »Was für ein Problem genau gibt es denn?«
»Wenn Sie sich jenen Abend vielleicht ins Gedächtnis rufen könnten, Doktor. Erinnern Sie sich an irgendwelche
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