Ein guter Blick fürs Böse
möglicherweise Unrecht. Verstehen Sie?«
»Ich denke schon, Dr. Harper.«
»Hmmm. Angesichts der Tatsache, dass es sehr kalt war in dem Zimmer und dass der Verstorbene allem Anschein nach bereits seit einiger Zeit darin gesessen und gelesen hatte, bevor er erschlagen wurde, wäre es durchaus denkbar, dass die Totenstarre mit leichter Verzögerung eingesetzt hat. Unter diesen Umständen wäre es natürlich auch denkbar, dass er bereits vor fünf Uhr starb.«
»Wie viel vor fünf?«, fragte ich eifrig.
»Das wiederum ist schwierig zu beantworten, Inspector«, sagte er bedeutsam. »Vielleicht vier Uhr?«
»Wie wäre es mit drei Uhr?«, fragte ich.
Er runzelte die Stirn, und meine Zuversicht sank. »Drei Uhr wäre wirklich sehr früh, Inspector.« Er schüttelte den Kopf. »Ich würde sagen, zu früh. Nicht einmal Ihnen zuliebe, Ross. Halb vier wäre gerade noch möglich.«
Die Witwe Jameson hatte Tapley nach drei auf der Straße gesehen, überlegte ich. Er hatte zur ersten Etage ihres Hauses hochgesehen. Vielleicht hatte er seinen Cousin oben am Fenster entdeckt und sich gemerkt, wo der Raum lag. Dann war er weggegangen und zwanzig Minuten später zurückgekehrt. Das wäre dann gegen halb vier gewesen.
Aber warum ging er weg? Hatte er bemerkt, dass er seinerseits aus einem der unteren Fenster beobachtet wurde? Wie dem auch sei, er ging, kehrte eine halbe Stunde später zurück, betrat das Haus ungesehen durch die Küche, schlich nach oben und erschlug seinen Cousin von hinten, dann verschwand er wieder auf dem gleichen Weg, wie er gekommen war … oh, ja! Ja, er konnte bis halb fünf wieder in seiner Kanzlei in der Gray’s Inn Road gewesen sein, knapp zwar, aber es war zu schaffen. Dort angekommen, schickte er clever, wie er ist, den Botenjungen los, um sich ein halbes Brathähnchen bringen zu lassen, und machte eine Bemerkung, dass er gerade noch Zeit hatte, es zu verspeisen, bevor die zur Konferenz geladenen Gäste erschienen. Auf diese Weise stellte er sicher, dass sich der Botenjunge genau erinnerte, um welche Zeit er zum Einkaufen geschickt worden war. Falls Morris herausfand, dass Jonathan Tapley am Nachmittag gar nicht mehr im Gerichtsgebäude gewesen war, dann hatten wir ihn! Oder zumindest hatten wir genug in der Hand, um ihn zum Scotland Yard zu bestellen und zu vernehmen. Hätte Lizzie nicht eine drei Tage alte Pastete zum Essen serviert, zusammen mit der Bemerkung, wie gut das Essen in der kalten Speisekammer frisch geblieben war …
»Dr. Harper, ich bin Ihnen wirklich zu Dank verpflichtet«, sagte ich. »Möglicherweise wird man Sie wegen dieser Frage in den Zeugenstand rufen. Werden Sie Ihre Aussage dort wiederholen?«
»Ich werde genau das sagen, was ich eben zu Ihnen gesagt habe«, antwortete Harper. »Ob das als Beweis für Richter und Geschworene ausreicht, liegt nicht bei mir.«
Nein, dachte ich kläglich. Nein, das liegt ganz und gar bei mir allein.
Morris kam eine Stunde später als ich zum Yard zurück. Ich hielt es vor Spannung kaum noch aus.
»Nun?«, fragte ich ihn eifrig.
Er gestattete sich ein Grinsen, und ich schöpfte neue Hoffnung. »Es will scheinen, Sir, dass die Verhandlung gegen den Klienten von Mr. Tapley vertagt wurde. Das Gericht hatte sich nach dem Essen kurz beraten, als einer der Hauptzeugen plötzlich erkrankte, mitten in der Aussage. Es sah nicht danach aus, als würde er sich im Lauf des Tages wieder erholen, also wurde die Verhandlung vertagt. Das Gericht schloss die Verhandlung kurz nach halb drei. Tapley beriet sich noch zehn oder fünfzehn Minuten lang mit einem Kollegen, danach betrachtete der Herr Anwalt seine Arbeit für den Tag vor Gericht als getan. Soweit ich feststellen konnte, hat ihn danach niemand mehr gesehen oder mit ihm gesprochen. Die anderen Fälle wurden fortgesetzt, und die daran Beteiligten saßen in den entsprechenden Sälen. Ich erkundigte mich bei den Pförtnern und Wachleuten nach ihm. Sie konnten mir zwar nicht den genauen Zeitpunkt nennen, doch sie waren ausnahmslos sicher, dass Tapley das Gebäude relativ früh verlassen hatte.«
»Sagen wir, er hat das Gericht gegen zehn vor drei verlassen«, überlegte ich laut. »Er könnte eine Droschke genommen haben … es gibt immer reichlich freie Droschken, die um das Gericht herum warten. Er ist direkt über den Fluss nach Süden gefahren. Er hat sich vom Kutscher ein paar Straßen vor seinem Ziel absetzen lassen, und um zwanzig nach drei war er vor Mrs. Jamesons Haus. Sie kann die
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