Ein guter Blick fürs Böse
von sich. Er musterte mich erneut aus zusammengekniffenen Augen und sagte: »Langsam fange ich an zu glauben, dass Sie im falschen Berufszweig arbeiten, Inspector. Sie wären ein sehr guter Prozessanwalt geworden. Sie kleben am Thema und wissen, wann Sie deutlich werden müssen.«
Ich schwieg. Schließlich setzte er sich und sagte: »Wie Sie sagten, starb Thomas am Tag vor dem Erscheinen des Zeitungsberichts. War es Ihnen möglich, den genauen Todeszeitpunkt zu ermitteln?«
»Gemäß den Worten des Pathologen, der den Tod festgestellt hat, starb das Opfer zwischen fünf und sieben Uhr am Abend.«
Er nickte. »Am fraglichen Datum habe ich mich den ganzen Tag im Gericht aufgehalten. Um vier Uhr in etwa habe ich mich in Richtung meiner Kanzlei in der Gray’s Inn Road aufgemacht. Ich hatte lediglich ein leichtes Mittagessen gehabt, und da ich nicht wusste, wie spät es an diesem Abend werden würde, schickte ich den Pagen los, mir ein halbes Brathähnchen zu holen. Der Junge kann den Zeitpunkt bestätigen. Ich aß hastig in meinem Büro, wo wir beide uns unterhalten haben. Ich hatte eine Fallkonferenz anberaumt und erwartete in jeder Minute die betroffenen Parteien. Sie kamen, und unsere Besprechung begann um Viertel nach fünf und endete deutlich nach sechs Uhr. Ich schreibe Ihnen die Namen auf. Gegen halb sieben verließ ich mein Büro und rief eine Droschke. Der Schreiber kann dies bestätigen. Um kurz nach sieben kam ich zu Hause an. Meine Frau und die Dienerschaft können dies bezeugen! Es war viel Verkehr an diesem Abend. In High Holborn war ein Karren umgestürzt, und die Ladung lag überall verteilt und sorgte noch Straßen weiter für Chaos. Ich erfuhr, dass das Pferd in der Deichsel tot umgefallen war, das arme Tier. Sie können das alles leicht überprüfen. Die Polizei war ebenfalls vor Ort. Das Abendessen stand schon bereit, und so machte ich mich kurz frisch und setzte mich an den Tisch, um mit meiner Frau und Flora zu essen. Dann habe ich mein Arbeitszimmer hier im Haus aufgesucht und meine Post abgearbeitet, die ich mit nach Hause genommen hatte. Da war es ungefähr neun Uhr. Meine Frau, Flora und die Belegschaft können sich für mich verbürgen. Der Butler Harris brachte mir wenig später etwas Kaffee, so gegen zehn. Ich informierte ihn, dass ich ihn nicht länger benötigte. Zu diesem Zeitpunkt war mein Cousin bereits seit einigen Stunden tot, wenn ich Sie richtig verstanden habe.«
»Das müsste genügen«, sagte ich. Ich hatte mein Notizbuch hervorgenommen und alles mitgeschrieben. »Und jetzt würde ich gerne mit den Damen sprechen, wenn es genehm ist, insbesondere mit Miss Flora.«
Er erhob sich und griff nach der Klingelschnur. Dann ließ er die Hand wieder sinken. »Ich gehe sie holen«, meinte er.
Er will sicherstellen, dass sie die richtigen Antworten parat haben, bevor sie auf mich treffen, dachte ich bei mir.
Ich hatte erwartet, dass er mit den Damen zurückkehren würde, doch als sich die Tür wieder öffnete, traten nur die beiden Frauen in raschelnden Röcken ein. Die Ältere ging voraus. Sie war eine stattliche Frau, gekleidet in schwarzen Taft mit eingestickten schwarzen Glasperlen und einer schwarzen Spitzenhaube auf dem Kopf. Sie sah mir geradewegs in die Augen, als ich zur Begrüßung auf die Füße sprang, doch ihr Gesicht zeigte keine Regung. Ich fühlte mich an eine griechische Statue erinnert. Die jüngere der beiden Frauen hielt den Blick gesenkt. Sie war in einfache schwarze Seide gekleidet. Der einzige Schmuck waren ein paar Bänder auf jeder Schulter. Um ihren Hals lag eine schlichte Goldkette mit Kreuz.
Sie setzten sich Seite an Seite auf eine vergoldete Sitzbank aus dem vorigen Jahrhundert. Die Ältere schlang die in Spitzenhandschuhen steckenden Finger ineinander, die Jüngere legte die Hände in den Schoß. Ihre Hände waren klein und mollig und sahen aus wie von einem Kind, doch als sie den Raum betreten hatten, war mir aufgefallen, dass sie annähernd die Größe ihrer Tante besaß. Da Thomas Tapley von kleiner Statur gewesen war, war womöglich ihre verstorbene Mutter groß gewesen.
Ich verneigte mich höflich, während sich die Zimmertür leise hinter den Frauen schloss. Ich vermochte nicht zu sagen, ob es Jonathan war, der dort in der Halle stand, oder Harris, der Butler.
»Ich bedauere, dass ich Ihren Abend stören muss«, eröffnete ich die Unterhaltung. Wie es aussah, lag es an mir anzufangen. Keine der beiden Frauen machte Anstalten zu sprechen. Man
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