Ein guter Blick fürs Böse
hielt mir ein silbernes Tablett hin, auf dem ein weißer Umschlag mit meinem Namen lag.
Ich öffnete ihn. Er beinhaltete die Liste mit Namen, die Jonathan Tapley mir versprochen hatte. Es war eine sehr lange Liste. Ich schob das Blatt in den Umschlag zurück und steckte diesen in meine Tasche.
»Hier entlang, Sir«, forderte Harris mich auf.
Ich folgte seiner steifen Erscheinung bis zur Vordertür und wurde mit nicht mehr als dem absolut notwendigen Maß an Höflichkeit hinausbefördert.
Ich war erst wenige Schritte weit gekommen, als ich bemerkte, wie sich die Tür hinter mir erneut öffnete. Eine weibliche Stimme rief meinen Namen.
Ich hörte, wie jemand leichten Fußes hinter mir hertrippelte, und drehte mich um. Zu meinem Erstaunen erblickte ich Miss Flora, die mit gerafften Seidenröcken in einer Art und Weise auf mich zugerannt kam, die ihre Tante nicht gutgeheißen hätte.
»Inspector!«, keuchte sie atemlos, als sie bei mir angelangt war.
»Lassen Sie Sich Zeit, und kommen Sie erst mal zu Atem, Miss Tapley«, forderte ich sie auf. »Ich kann warten.«
Sie holte tief Luft und sah mich prüfend an. Ich versuchte, ihren Blick aufmunternd zu erwidern, offensichtlich ohne Erfolg.
»Bevor Sie gehen, wollte ich Ihnen nur sagen, dass Sie den Mann finden müssen, der meinen Vater getötet hat«, platzte es aus ihr heraus.
»Das ist meine Absicht«, erwiderte ich milde. »Das ist der Grund, warum ich Sie heute Abend aufgesucht habe.«
»Sie werden den Mörder nicht in diesem Haus finden!«, sagte sie heftig. Ihre Wangen glühten, die glatten Strähnen ihres Haars waren leicht in Unordnung geraten, und sie sah aus, als wäre sie jünger als die neunzehn Jahre, die sie tatsächlich alt war. »Ich weiß nicht, wo Sie ihn finden, doch Sie müssen ihn finden! Versprechen Sie es!«
Ich antwortete nicht sofort, sondern sah sie nachdenklich an, was sie zu verunsichern schien.
»Warum tun Sie es nicht?«, fragte sie. Sie hob eine Hand und begann nervös, die abtrünnigen Strähnen an ihren Platz zurückzuschieben.
»Warum ich es nicht verspreche? Ich wäre ein Narr, würde ich etwas so Unbedachtes tun. Das Lösen von Kriminalfällen ist kein gerader, glatter Weg. Es kann sein, dass ich die eine oder andere falsche Wendung einschlage. Möglicherweise liegen mir Steine im Weg, über die ich stolpere. Möglicherweise gibt es den einen oder anderen, der mich in die Irre zu führen versucht. Ich bin wie ein verirrter Mann, der sich seinen Weg durch den Nebel sucht. Doch wenn ich die richtigen Fragen stelle und von den richtigen Leuten die richtigen Antworten erhalte, lichtet sich der Nebel womöglich, und ich erkenne den Weg. Dort draußen gibt es einen zum Äußersten entschlossenen Mörder, Miss Tapley, dem der Galgen droht. Er wird es mir nicht leicht machen. Doch ich gebe mein Bestes. Scotland Yard gibt sein Bestes, das verspreche ich.«
»Ich verstehe«, sagte sie leise. »Ich danke Ihnen. Es tut mir leid, falls meine Familie einen wenig hilfreichen Eindruck auf Sie gemacht hat. Wir – wir sind sehr erschüttert.«
»Das ist nur natürlich.«
»Natürlich …«, wiederholte sie, als versuchte sie, dem Wort eine tiefere Bedeutung abzuringen. »Inspector, ich möchte nicht, dass Sie denken, mein Vater hätte mich aufgegeben, als er nach Frankreich ging, um dort zu leben.«
»Selbstverständlich nicht. Er ließ Sie in einem komfortablen Zuhause zurück, in der Obhut von Verwandten, die sich um Ihr Wohlergehen sorgten und dies offensichtlich immer noch tun.«
»Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie schlecht von ihm denken«, drängte sie, während ihr die Anspannung anzumerken war.
»Das tue ich auch nicht. Ich frage mich, Miss Tapley, ob es womöglich noch etwas gibt, das Sie mir sagen möchten. Irgendetwas, das Sie vielleicht nicht vor Ihrer Tante Maria sagen wollten?«, sagte ich aufmunternd.
»Nein!«, schnappte sie. Dann, mit einem flüchtigen Blick über die Schulter: »Ich muss zurück. Man wird mich vermissen.«
Ein Rascheln von Seide, und sie rannte zur Tür zurück, die sich bei ihrem Herankommen öffnete. Harris hatte gewartet. Ich fragte mich, ob er seiner Herrschaft von dieser kleinen Eskapade berichten würde. Doch die Dienerschaft hier hatte Flora aufwachsen sehen. Gut möglich, dass sie Flora in Schutz nahmen, so wie sie es vermutlich auch getan hatten, wenn sie als Kind unartig gewesen war.
Ich fragte mich, was genau sie mir eigentlich hatte mitteilen wollen, als sie mir hinterhergerannt
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