Ein guter Blick fürs Böse
er bald fortgehen würde. Er wünschte sich, ich möge ein gutes Mädchen sein und meine Angehörigen achten, die mich so gütig bei sich aufgenommen hätten. Und dass ich nicht meine Gebete vergessen sollte, bevor ich zu Bett ging, und dass ich ihn darin bedenken sollte.«
In ihren Augen sah ich Tränen funkeln. Sie blinzelte und sah erneut zu Boden.
»Ist dies wirklich von Bedeutung?«, fragte Maria Tapley unfreundlich. »Was sich am zehnten Geburtstag eines Kindes ereignet hat? Welche Bedeutung könnte es für diese schlimme Sache haben, die aktuell passiert ist?«
»Ich weiß nicht, was möglicherweise von Bedeutung ist und was nicht, Mrs. Tapley, daher muss ich nach allem fragen«, entgegnete ich, ohne sie dabei anzusehen. Ich beobachtete Flora. Sie hatte ein spitzenbesetztes Tuch hervorgezogen und betupfte sich damit die Augen. Dann legte sie das unzulängliche Taschentuch beiseite und sah mich direkt an. Die Tränen waren versiegt.
Sie war in einer guten Schule bei ihrem Onkel und ihrer Tante, dachte ich bei mir. Sie hatten sie gelehrt, dass es unschicklich war, Gefühle zu zeigen. Das arme Kind. Womöglich hatte Lizzie doch Recht gehabt. Thomas hätte hierbleiben und darauf achten sollen, nicht in einen Skandal verwickelt zu werden, und sein Kind mithilfe einer Gouvernante selber großziehen. Vielleicht hatte er sich von Jonathan und Maria zu voreilig überreden lassen, dass es das Beste wäre, wenn sie seine Tochter in ihre Obhut nähmen. Thomas war gerade erst Witwer geworden und verletzlich. Ich konnte mir nicht helfen, ich hatte das Gefühl, dass die Tapleys, kinderlos, wie sie waren, auch in ihrem eigenen Interesse gehandelt hatten, als sie ihn überredeten, Flora in ihre Obhut zu geben.
»Hat Ihnen Ihr Vater jemals geschrieben, nachdem er fortging, um auf dem Festland zu leben?«
»Nein«, sagte sie.
Sie hatte sich nun unter Kontrolle, und auch wenn es schmerzlich für sie war, ließ sie sich nichts anmerken, und ihre Stimme klang gefasst. Ich wünschte, ich hätte ausführlicher darauf eingehen können.
Warum hat er nicht geschrieben?, fragte ich mich. Warum hat er sie nicht öfter besucht, bevor es zu dieser traurigen Trennung an Floras zehnten Geburtstag kam? Jonathan hatte mir gegenüber erwähnt, dass Thomas die Besuche als »schwierig« empfunden hatte. Wie konnte er das wissen? Hatte Thomas sich so selten blicken lassen, weil Jonathan ihm eingeredet hatte, ein »sauberer Schnitt« wäre das Beste? Dass es dem kleinen Mädchen leichter fallen würde, sich bei den neuen Eltern einzuleben, wenn es keinen Kontakt mit dem leiblichen Vater gab? Natürlich waren das alles lediglich Spekulationen meinerseits. Es war eine tragische und schwierige Situation für Thomas und für sein Kind gewesen. Wahrscheinlich hatten alle beteiligten Erwachsenen stets nur geglaubt, im besten Sinne zu handeln. Vielleicht hatten sie das auch? Wer war ich, dass ich wagte, Kritik zu äußern?
Ich rief mir ins Gedächtnis, dass es letztendlich kein völlig glatter Schnitt gewesen war. Flora war drei Jahre alt gewesen, als sie in die Obhut von Jonathan und seiner Frau gegeben worden war. Doch es war kurz vor ihrem zehnten Geburtstag gewesen, als man Thomas überredet hatte, England auf Nimmerwiedersehen den Rücken zu kehren. Im Alter von drei bis zehn hatte Thomas mit ihr Kontakt gehalten. Wie hatte sich Thomas wirklich gefühlt, als er seine Sachen gepackt hatte, um nach Frankreich zu gehen, und sein Kind zurücklassen musste?
Und wie hatte Flora sich gefühlt? Hatte sie seinen spärlichen Besuchen entgegengefiebert? Aufgrund der wenigen Worte, die sie geäußert hatte, hegte ich die Vermutung, dass sie ihren abwesenden Vater geliebt hatte oder zumindest den Gedanken daran, einen Vater aus Fleisch und Blut zu haben, auch wenn er sich sonstwo aufhielt.
Ich wollte das Mädchen nicht noch länger peinigen und erhob mich. Zum ersten Mal war auf dem wie in Stein gemeißelten Gesicht von Maria Tapley eine Gefühlsregung erkennbar. Sie sah erleichtert aus.
»Ich danke Ihnen beiden für Ihre Geduld«, sagte ich.
Bevor Flora etwas entgegnen konnte, zerrte Maria an der Klingelschnur.
»Harris bringt sie zur Tür«, sagte sie kurz angebunden. »Komm, Flora.«
In einem Wirbel aus schwarzem Taft und glänzenden Perlen rauschte sie aus dem Zimmer. Flora warf mir einen entschuldigenden Blick zu und eilte hinterher.
Ich blieb alleine zurück, doch nur für kurze Zeit. Harris erschien, um mich nach draußen zu führen. Er
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