Ein guter Blick fürs Böse
hatte mich nicht aufgefordert, mich zu setzen, also tat ich es einfach.
Maria Tapley antwortete mit einer Stimme, die ähnlich ausdruckslos war wie ihr Gesicht. »Ich nehme an, dass es unumgänglich war, Inspector.«
Sie hätte genauso gut sagen können, dass sie glaubte, ich wüsste es nicht besser, denn dies war offensichtlich das, was sie dachte.
Ich wandte mich an Flora. Da sie das Gesicht gesenkt hielt, fiel mein Blick auf den Ansatz ihres hellbraunen Haares, das sie in der Mitte gescheitelt trug. Von dort zog es sich in glänzenden Schwingen seitlich um den Kopf, bis es schließlich in einem gedrehten Knoten auf dem Hinterkopf endete. Um den Knoten hatte sie ein schwarzes Band gewunden, dessen Enden ihr in den Nacken fielen. Ein beunruhigendes Bild kam mir in den Sinn, wie eine der Frauen von Heinrich dem Achten, ich meinte, mich erinnern zu können, dass es Anne Boleyn gewesen war, den Kopf auf den Richtblock gelegt und dem Henker ihren zierlichen Nacken dargeboten hatte.
»Ich bedauere Ihren Verlust, Miss Tapley. Ihr Vater war für kurze Zeit ein Nachbar von mir und meiner Frau.«
Mrs. Tapley kniff die Augen zusammen, und die junge Frau blickte überrascht auf.
»Nichtsdestotrotz muss ich gestehen, dass ich ihn kaum kannte«, fuhr ich fort. »Ich bin ihm lediglich ein paar Mal auf der Straße begegnet. Ich glaube, meine Frau hat sich hin und wieder kurz mit ihm unterhalten.«
Flora lächelte unsicher. Sie besaß ein rundes Kinn und weit auseinanderliegende Augen unter geraden, dunklen Brauen. Sie war nicht wirklich schön, besaß jedoch eine gewisse Ausstrahlung, und wäre ich ein Künstler gewesen, hätte ich sie vermutlich gerne porträtiert.
»Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit, Inspector Ross«, erwiderte sie.
Es schien wenig Sinn zu machen, sich mit Maria Tapley zu unterhalten. Sie fungierte als Anstandsdame und Spitzel ihres Ehemannes. Ich konzentrierte mich daher auf Flora. Ich hatte das Gefühl, als wäre sie mir nun etwas wohlgesonnener. Von der Feindseligkeit, die ihre Tante versprühte, war bei ihr nichts zu spüren. Ich dachte von den Tapleys als Onkel und Tante, da Flora dies ebenfalls tat. Tatsächlich nannte Lizzie Mrs. Parry ebenfalls Tante, obwohl sie nicht mit ihr blutsverwandt war. Es war eine dienliche Bezeichnung. Ich hätte Jonathan gegenüber den Vorwurf besser vermieden, er und seine Frau hätten versucht, das Verhältnis zu dem Kind in ihrer Obhut verschleiern zu wollen.
»Es tut mir leid, wenn ich Ihnen nun ein paar unangenehme Fragen stellen muss«, sagte ich. »Doch leider funktionieren polizeiliche Ermittlungen auf diese Art. Fragen müssen gestellt und beantwortet werden. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie Ihren Vater nicht besonders gut kannten?«
»Ich war gerade zehn Jahre alt, als er England verlassen hat«, antwortete sie. »An meinem zehnten Geburtstag hat er mich ein letztes Mal besucht, mir alles Gute gewünscht und mir ein Geschenk gegeben.« Ihre Finger tasteten nach dem Kreuz an der goldenen Kette um ihren Hals. »Es war dieses Kreuz hier. Er brachte mir außerdem ein kleines Kästchen mit Intarsien aus Elfenbein. Er sagte, es stamme aus Indien und wäre für meine ›Juwelen‹, wie er es nannte. Damals besaß ich lediglich die Halskette, die er mir gegeben hatte, und eine silberne Armspange von meiner Taufe. Wie Kinder sind, brach es aus mir heraus: ›Aber ich habe doch gar keine Juwelen!‹ Er lachte und meinte: ›Eines Tages, meine liebe Flora, wirst du viele Diamanten haben, du wirst schon sehen!‹«
Sie lächelte traurig und schwieg. Ich dachte über Thomas’ Worte nach. Hatte er andeuten wollen, dass sie eines Tages, wenn er gestorben war, wohlhabend sein würde? Er hatte all die Jahre über nur wenig Geld für seinen Lebensunterhalt ausgegeben. Jonathan hatte vermutet, dass Thomas seiner Tochter ein anständiges Erbe hinterlassen wollte. War ihm daran gelegen gewesen, dass sie begütert war, wenn er von ihr ging? Es war wichtig, dass ich Kontakt zu diesen Anwälten in Harrogate aufnahm, überlegte ich. Wie groß war Thomas’ Vermögen gewesen? Geld war eines der ältesten Motive der Welt, wenn es um Mord ging.
»Machte er Andeutungen, dass er im Begriff stand, England zu verlassen? Erinnern Sie sich an irgendetwas?«, fragte ich so behutsam wie möglich.
»Ich erinnere mich an alles, was er sagte«, erwiderte sie schlicht.
Ich hörte das Rascheln von Taft, als Maria Tapley sich neben Flora auf der Bank bewegte.
»Er sagte, dass
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