Ein Haus für vier Schwestern
freuen.«
»Bei Weitem nicht so sehr wie über einen Scheck.«
»Darum geht es doch nicht. Lass mich wenigstens ein Treffen vorbereiten. Wenn es dir überhaupt nicht gefällt, dann …«
Jessie beugte sich vornüber und hielt sich die Seite, als ob er so den Schmerz auf eine Stelle beschränken könnte. »Nein.«
»Also gut. Was ist mit einer Reise? Nichts Langes oder Anstrengendes, nur einen oder zwei Tage.« Sie hielt inne. »Golden Gate im Nebel, Lake Tahoe, die kalifornischen Weinbaugebiete. Mein Bruder arbeitet für einen berühmten Winzer. Ich könnte eine private Führung organisieren.«
Jessie lächelte ironisch. »Hast du jemals dieses Spiel gespielt, bei dem man sagen muss, was man tun würde, wenn man nur noch einen Monat zu leben hätte?« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, legte den Ellbogen auf die Armlehne seines Stuhls und stützte das Kinn auf seine Hand. »Das ist einfach, wenn es um nichts geht. Doch jetzt kommt mir alles wie Zeitverschwendung vor. Mein ganzes Leben lang bin ich wegen der Erinnerungen gereist und wegen der Erfahrungen, die man dabei macht. Aber was bringt mir das in meiner Situation?«
»Ich könnte Urlaub nehmen.« Das unmerkliche Zögern in ihrer Stimme verhinderte, dass der Vorschlag so beiläufig klang wie beabsichtigt. »Wir könnten etwas zusammen unternehmen.«
Sein Blick durchbohrte sie. »Werd bitte nicht rührselig, Lucy. Ich habe ein erfülltes Leben gelebt, größtenteils selbstbestimmt. Es war länger als das vieler anderer Menschen. Ich jammere nicht. Was ich brauche, ist ein eleganter Abgang.«
»Wie kann ich dir dabei helfen?«
»Du hilfst mir doch. Es muss nur alles ein bisschen schneller gehen.«
»Und es gibt keine Möglichkeit, dir dieses Projekt auszureden?«
Sie konnte das Bedürfnis nachempfinden, vor seinem Tod das Verhältnis zu seinen Töchtern zu regeln. Zu Töchtern, von denen Lucy bis vor drei Monaten nichts gewusst hatte. Sie konnte ihm nur nicht klarmachen, dass sein Projekt ein Ding der Unmöglichkeit war. Er suchte Vergebung. Seine Töchter dagegen suchten Antworten und Erklärungen für lebenslanges Leid.
Lucy war ein Scheidungskind und wusste um das Gefühl des Verlassenwerdens. Sie verstand, was Jessies Töchter durchgemacht hatten und immer noch durchmachten. In ihrer Wut würden sie ihm das Herz brechen und sich dabei auch noch im Recht fühlen. Es war einfach zu wenig Zeit. Wahrscheinlich wäre es sogar zu wenig gewesen, wenn Jessie weitere zwanzig Jahre gehabt hätte.
»Nichts, was du sagst, wird an meinem Wunsch etwas ändern«, sagte er leise. »Ich weiß, du denkst, irgendwo in meinen Hinterkopf existiert die Vorstellung, dass sie sich in meine Arme stürzen und laut ›Daddy‹ rufen. Nichts liegt mir ferner. Ich will sie treffen, weil ich es nicht ertragen kann, zu sterben, ohne mich ihnen zu erklären. Ohne ihnen zu sagen, dass ich nicht der Dreckskerl bin, für den sie mich zu Recht halten. Ich mag sie verlassen haben, aber vergessen habe ich sie nie.«
Er erhob sich mit Unterstützung der Armlehnen. Nicht nur der Krebs, sondern auch seine Gefühlsregungen ließen ihn so alt erscheinen, wie er wirklich war. »Als ich mich entschloss, die Sache anzupacken, wollte ich mir einreden, ich täte das, um ihnen ihren Seelenfrieden zurückzugeben, solange ich noch konnte – ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für mich. Ich wünschte heute, ich wäre so selbstlos.« Er sah ihr direkt in die Augen. »Ich tue das für mich. Damit ich zumindest ein bisschen Frieden finden kann.«
Jessie ging zum Schreibtisch, zog eine Schublade auf und nahm ein Blatt Papier heraus. »Das ist die Adresse, die ich von Elizabeth hatte, als ich vor ein paar Jahren versucht habe, sie zu kontaktieren.«
Lucy nahm das Blatt. Vor fünfzehn Jahren hatte Jessie erfahren, dass seine älteste Tochter in Fresno lebte, und sie angerufen. Sie weigerte sich, etwas mit ihm zu tun zu haben, und drohnte ihm an, ein gerichtliches Umgangsverbot zu erzwingen, sollte er versuchen, sie zu treffen. Seine Briefe waren ungeöffnet zurückgekommen. Nach einem Jahr hatte er aufgegeben.
Während sie die Informationen über Jessies vier Töchter für einen privaten Ermittler zusammengestellt hatten, hatte Lucy ihn gefragt, ob Elizabeth die Einzige gewesen war, zu der er je Kontakt aufnehmen wollte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieser Mann, den sie so gut kannte, seine Kinder verlassen würde, wie sie von ihrem Vater verlassen worden war. Jessie
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