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Ein Herzschlag bis zum Tod

Ein Herzschlag bis zum Tod

Titel: Ein Herzschlag bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara J. Henry
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Schultern, sagte aber nichts. Das überraschte mich nicht. Hätte er mir erzählen wollen, was auf der Fähre geschehen war, dann hätte er es längst getan.
    »
Tes parents

    Noch nie hatte ich einen so leeren Gesichtsausdruck bei einem Kind gesehen.
    Während meiner Zeit am College hatte ich zwei Nachmittage in der Woche ehrenamtlich in einer Betreuungseinrichtung gearbeitet, in der Polizei und Sozialarbeiter oft mitten in der Nacht Kinder ablieferten. Ein dünnes blondes Mädchen namens Janey hatte mich angefleht, sie zu adoptieren. Ich hatte versucht, ihr zu erklären, dass eine 1 9-jährige Studentin niemanden adoptieren kann, schon gar nicht eine Neunjährige – aber wer verzweifelt nach einem glücklichen Zuhause sucht, |20| gibt nicht so schnell auf. Immer wieder wurde sie in das Heim gebracht und war jedes Mal hohläugiger, dünner und in sich gekehrter. Die Mitarbeiter durften uns keine Einzelheiten verraten, und so konnte ich nur ahnen, was bei ihr zu Hause vorging. Und dann war sie weg. Vielleicht kam sie in eine Pflegefamilie oder ein Kinderheim oder ihre Familie zog weg, um dem Zugriff des Sozialamts zu entgehen. Ich habe nie erfahren, was aus ihr geworden ist.
    Danach dachte ich jahrelang, wann immer ich ein dünnes blondes Mädchen sah, es könnte Janey sein.
    Die Fensterscheiben beschlugen von unserem Atem. Ich zwang mich, klar zu denken. Der Fahrkartenschalter war verlassen, die Passagiere längst weg, die Fähre des Jungen vermutlich schon auf halbem Weg zurück nach Vermont. Hier gab es keine Passagierlisten. Man bezahlte einfach und fuhr oder ging an Bord. Die Polizei könnte aber die Fähre bei der Ankunft in Burlington erwarten und sich nach Leuten erkundigen, die dort mit einem kleinen Jungen an Bord gegangen waren.
    Mein Handy hatte ich im Auto am Aufladekabel vergessen – nur deshalb war es nicht auf dem Grund des Sees gelandet. Hier würde ich kein Signal bekommen, aber ein Stück weiter, am Bahnhof, gab es eine Telefonzelle. Ich nahm eine Hand voll Münzen aus dem Aschenbecher und zeigte auf das Telefon, damit der Junge wusste, was ich vorhatte. Ich lehnte mich an die Wand der Zelle und blätterte mit klammen Fingern im Telefonbuch.
    Die Menschen wollen schlimme Dinge gewöhnlich nicht wahrhaben – und verdrängen sie. Sie wollen nicht wahrhaben, dass Lehrer Monster sein können, dass Priester Kinder missbrauchen, dass der nette Junge von nebenan sämtliche Mädchen aus der Nachbarschaft nacheinander systematisch belästigt. Sie verschließen die Augen, so lange es nur geht.
    Wenn ich den Polizisten erklärte, dass jemand ein Sweatshirt |21| in Erwachsenengröße wie eine Zwangsjacke um dieses Kind gebunden hatte, würden sie freundlich lächeln und mir erklären, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Vermutlich hätten sich die Ärmel einfach nur verdreht und um seine Taille gewickelt. Beweisen konnte ich nichts, da sich das Sweatshirt am Grund eines hundertzwanzig Meter tiefen Sees befand.
    Und der Junge würde ihnen definitiv nicht erzählen, was passiert war.
    Ich hörte auf zu blättern und rief die Auskunft an, warf Geld nach und wählte die Nummer der Polizei in Burlington. Als sich eine Frauenstimme meldete, sagte ich klar und deutlich, ohne meinen Namen zu nennen: »Jemand hat einen kleinen Jungen von der Fähre von Burlington nach Port Kent geworfen. Vor weniger als einer Stunde. Er ist fünf oder sechs Jahre alt, hat dunkles Haar, braune Augen, ist dünn und spricht Französisch.«
    Zahllose Fragen prasselten auf mich ein. Ich ignorierte sie und wiederholte, was ich gesagt hatte. Denn ich hätte außer der Frage nach meinem Namen keine beantworten können, und die wollte ich nicht beantworten. Dann hängte ich ein. Danach rief ich die Polizei in Elizabethtown an, wo es auch ein Revier gab, wiederholte meinen Spruch und legte auf.
    Ich sah zu dem Jungen, der mich durch die Windschutzscheibe beobachtete.
    Dann stieg ich wieder ins Auto. »Auf geht’s«, sagte ich und deutete auf den Sicherheitsgurt. Er wühlte die Hände aus dem Schlafsack und schnallte sich gehorsam an.
    Einige Kilometer weiter meldete mein Handy mit einem Piepton, dass es wieder Empfang hatte. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Ich war auf dem Weg nach Burlington gewesen, um Thomas zu besuchen und mit ihm in ein Klavierkonzert zu gehen. Vermutlich wunderte er sich, warum ich nicht aufgetaucht war. Rasch wählte ich seine Nummer.
    »Tommy, hier ist Troy«, sagte ich und kämpfte gegen die |22|

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