Ein Herzschlag bis zum Tod
erahnte ein Licht über mir: entweder den Himmel oder die Wasseroberfläche. Wir schossen aus dem Wasser hoch, der Junge neben mir. Ich sog so viel Luft ein, dass es in den Lungen weh tat, und schüttelte mir das Wasser aus dem Gesicht.
Der Junge hing schlaff in meinem Arm, in das vollgesogene Sweatshirt verstrickt, und ich konnte nicht erkennen, ob er noch atmete. Ich versuchte, ihm das Sweatshirt über den Kopf zu ziehen, und wollte ihm auf den schmalen Rücken schlagen. Vor Jahren hatte ich Wiederbelebung gelernt, aber wer sagt einem schon, wie das geht, wenn man dabei in einem tiefen, kalten See Wasser tritt?
Keine Reaktion. Ich zog den Jungen zu mir, legte den Mund auf seinen und blies, holte abwechselnd Luft und blies – einmal, zweimal, dreimal. Jetzt war ich fast wütend, auf die Ironie des Schicksals oder was auch immer mich in dieses kalte |12| Wasser getrieben hatte, mit einem dünnen, sterbenden Kind in den Armen. Ich hatte ihn gefunden, und er musste, verdammt noch mal, endlich atmen.
Der Junge hustete, spie einen Wasserschwall aus und öffnete die Augen. »
Ja!«
, flüsterte ich, »ja, ja, ja!« Ich glaube, ich habe ihn auch ein bisschen geschüttelt. Ich hätte geweint, wenn ich nicht schon vor langer Zeit gelernt hätte, dass man nicht gleichzeitig weinen und schwimmen kann.
Jetzt mussten wir ans Ufer gelangen, und der Weg dorthin sah sehr viel weiter aus als die Strecke beim Mini-Triathlon.
Ich habe gelesen, dass Ertrinkende einen mit sich in die Tiefe ziehen können. Man soll ihnen daher den Arm um den Hals legen, damit sie einen nicht packen können. Ich wusste aber, dass ich es mit nur einem Arm nicht an Land schaffen würde. Also schob ich seine Hände unter meinen Gürtel und drückte sie zu winzigen Fäusten.
»Halt dich fest«, sagte ich und schaute in seine dunklen Augen. Er schien mich zu verstehen.
Der Weg ans Ufer war nicht dramatisch, nur mühsam. Es gibt eine Formel, um zu berechnen, wie lange man im kalten Wasser überleben kann, bevor die Unterkühlung einen benommen und die Gliedmaßen nutzlos macht. Zum Glück konnte ich mich nicht daran erinnern.
Diesen Teil einer Rettungsaktion werden Sie im Fernsehen niemals sehen – den langen, langsamen, öden Teil. Ich kraulte, ich schwamm auf der Seite. Im Geiste sang ich ein langsames Klagelied, das ich bei den Pfadfinderinnen gelernt hatte:
Mandy had a little bay-bee. Had that baby just for me.
Ziehen, atmen.
Mandy, oh, my Mandy oh, my Man-dee mine.
Ziehen, atmen.
Baby made my Mandy cry. Cried so hard she soon did die.
Ziehen, atmen.
Mandy, oh, my Mandy oh, my Man-dee mine.
Einmal rutschten die Hände des Jungen von meinem Gürtel, und ich konnte ihn gerade noch packen, bevor er unterging. Er |13| öffnete die Augen einen Spalt weit und schaute mich benommen an. Ich nahm ihn in die Arme, während das Wasser um uns herumschwappte. »Nur noch ein bisschen, nur noch ein bisschen«, flehte ich ihn an, und seine Augenlider flatterten. Vielleicht weinte ich jetzt doch, aber ich war so nass und kalt, dass ich es nicht genau sagen konnte.
Jetzt erkannte ich Einzelheiten am Ufer, Felsen und einen großen Baum, der mir zu winken schien, und ich wollte verdammt sein, wenn wir so nah vor dem Ziel ertranken. Ich riss die Kordel aus meiner Kapuze und knotete seine Hand an meinen Gürtel. Dann schwammen wir als unbeholfenes Tandem weiter.
Wir waren weit vom Fähranleger abgetrieben und erreichten das Ufer an einer felsigen Stelle. Ich tastete mit den Füßen, und da war der rutschige Boden. Ich zog den Gürtel aus, um den Jungen zu befreien, und hob ihn auf meine Hüfte. Dann taumelte ich aus dem Wasser, während er sich an mich klammerte wie ein kleiner Orang-Utan, und setzte mich auf den ersten großen Felsen.
Einen Moment lang saßen wir schweigend da, rangen nach Luft, zitterten. Meine innere Stimme sagte
dankedankedanke
, wenngleich ich nicht wusste, wem ich dankte. Mit sonderbarer Klarheit spürte ich den harten Stein unter mir und dass mich das Wasser nicht länger hin und her wiegte.
Der Junge regte sich und drehte sich zu mir. Das dunkle Haar klebte an seinem schmalen Gesicht. Zum ersten Mal gab er einen Laut von sich.
»
Merci «
, flüsterte er.
|14| 2
Er war dünn und blass, hatte eine leichte Stupsnase, riesige, dunkle Augen mit langen Wimpern und tiefe Schatten unter den Augen. Er war klein, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, und trug einen warmen, langärmeligen, gestreiften Pullover und eine Jeans. Er schaute mich
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