Walzer der Liebe
1. KAPITEL
Der erste anonyme Brief traf Anfang Mai ein.
Ich erinnere mich noch klar an diesen Tag. Ich saß mit meiner Cousine Louisa am Frühstückstisch. Es war ein strahlender, stürmischer Morgen. Sonnenlicht flutete durch die Fenster, ließ Kristall und Silber erglänzen und verwandelte ein prosaisches Häufchen Orangenmarmelade in einen schimmernden bernsteinfarbenen Klecks. Da meine Tante ihr Frühstück stets im Bett einzunehmen pflegte und Lord Moreston zeitig aus dem Haus gegangen war, hatten Louisa und ich die Möglichkeit, uns beim Essen so zu amüsieren, wie es uns gefiel. Ich tat das mit einigen mit der ersten Post eingetroffenen Briefen und sie mit dem neuesten, bei Minerva erschienenen Roman.
Meine erste Reaktion auf den Brief war Verwirrung. Furcht empfand ich nicht. Sie würde später kommen. Sehr viel später. Damals starrte ich das Schreiben nur an, als könnte ich so den Namen des Absenders herausfinden oder entdecken, dass der Brief fehlgeleitet worden war. Doch nein! Mein Name und die Anschrift - Miss Constance Ames, Moreston House, Park Lane, London - waren deutlich auf dem Umschlag vermerkt.
Die Handschrift kannte ich nicht. Sie war klein und verkrampft. Das dünne Papier, auf dem die Zeilen standen, war nichts Besonderes und das Siegel aus grellblauem Siegellack. Es zeigte weder ein Wappen noch Initialen, sondern nur die groben Konturen eines Gänseblümchens.
Stirnrunzelnd las ich den Brief nochmals durch. Es gab keine Anrede. In dem abrupt beginnenden Text wurde mir mitgeteilt, ich sei, trotz meines eingebildeten Gehabes, nichts anderes als eine Landpomeranze. Und es gebe Dinge, die der Schreiber über meine Familie wisse und durch die ich, sollten sie je bekannt werden, so kompromittiert würde, dass man mich mit Schimpf und Schande heimschicken werde. Damit endete die Mitteilung. Sie enthielt keine Androhung der Bloßstellung und keine Forderung nach Geld, das zu zahlen ich ohnehin nicht imstande gewesen wäre.
Ich fragte mich, während ich ihn auf den Tisch fallen ließ und mir die Finger an meiner Serviette abwischte, was das Schreiben bedeuten könne. Ich hatte fast das Gefühl, ich hätte mir die Finger schmutzig gemacht, als ich den Brief anfasste. Aus den wenigen Worten sprach eine Boshaftigkeit, die unmissverständlich war. Das Ganze war kein Streich. Wer immer den Brief geschrieben hatte, wünschte mir Böses.
Ich hob den Kopf und sah Louisa mich anstarren. Zumindest glaubte ich, dass sie mich anstarrte. Manchmal war das schwer zu beurteilen, da sie die Angewohnheit hatte, gleichsam durch jemanden hindurchzusehen, wenn sie geistesabwesend war. Sicherheitshalber rang ich mir ein Lächeln ab.
„Ich hoffe, du hast keine schlechte Nachricht erhalten, Cousinchen", sagte sie kühl. „Du wirkst ein bisschen besorgt."
„Nein, nein. Das ist keine schlechte Nachricht, nur ein langweiliger Brief von einer Bekannten aus Yorkshire. Ich wundere mich, dass sie mir geschrieben hat. Wir standen uns nie nahe."
Beim Sprechen schenkte ich mir Kaffee nach und staunte über meine blühende Fantasie.
Mein Onkel hatte mich dazu erzogen, ungeachtet der Konsequenzen stets die Wahrheit zu sagen, doch nun sah ich mich in eine Lüge verstrickt und wusste nicht einmal, warum.
„Natürlich wirst du deiner Bekannten antworten. Du bist so konventionell", erwiderte Louisa in gelangweilt klingendem Ton. „Ich schlage vor, du teilst ihr alles über deine neuen Kleider mit, über die wundervollen Gesellschaften, die du besucht hast, die dir bekannten gut aussehenden, reichen und weltgewandten Männer, die dir leidenschaftliche Briefe schreiben und dich anflehen, sie zu heiraten. Das geschähe ihr recht. Meinst du das nicht auch, Connie?"
Wohl zum hundertsten Male wünschte ich mir, Louisa möge mich nicht Connie nennen.
Ich hasste diesen Namen. Wenngleich ich sorgfältig darauf achte, sie Louisa zu nennen und nicht Weeza, wie ihr Bruder das tut, hatte sie diesen Wink nicht begriffen. Ich überlegte, warum ich sie nicht rundheraus aufforderte, mich mit meinem richtigen Namen anzureden. Im Allgemeinen bin ich nicht so schüchtern.
„Aber kein gutaussehender oder reicher Gentleman tut so etwas, Cousinchen", antwortete ich nur.
Sie zuckte mit den Schultern.
„Warum zögerst du, da keiner deiner Bekannten im Norden das wissen kann?"
Da sie das Buch bereits wieder zur Hand genommen hatte, war eine Antwort auf diese Bemerkung nicht erforderlich. Sie war bald wieder in die Lektüre vertieft, so dass
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