Ein Herzschlag bis zum Tod
friedlich an, seufzte wie ein müder Welpe und bettete den Kopf an meine Brust.
Die Gefühle, die mich daraufhin durchfluteten, trafen mich wie ein Schlag. Einen verrückten Moment lang schien der Junge, der auf meinen Schoß saß, mir zu gehören, ein Geschenk des Sees.
Wir blieben eine Weile eng umschlungen dort sitzen – wie lange, kann ich nicht sagen. Wasser, Wolken, Himmel und Ufer sahen aus wie im Film, und die Zeit bekam eine andere Dimension, als bewegte sie sich langsam und träge. Dann plötzlich spürte ich den Wind auf meiner kalten Haut und den nassen Kleidern. »Wir müssen uns bewegen«, sagte ich und stellte ihn auf die Füße. Sofort schwand die Wärme aus meinem Körper, wo ich ihn eben noch an mir gespürt hatte.
Ich drückte das Wasser aus meinem Pferdeschwanz und wrang meine Windjacke aus. Der Junge hatte noch seine Turnschuhe an und ich meine Sportsandalen. Sie waren so leicht, dass ich mir nicht die Mühe gemacht hatte, sie im Wasser auszuziehen. Ich streckte die Hand aus. »
Viens «
, sagte ich. Ich ergriff seine kleine, kalte Hand und stieg über die Felsbrocken.
Es war wie ein Traum, ein Albtraum. Es fühlte sich an, als watete man durch Treibsand. Nach wenigen Minuten musste |15| der Junge husten, dann würgte er, fiel auf die Knie und erbrach Seewasser ins schmutzige Gras. Ich hielt seine Taille umfasst, während er würgte, und wischte ihm mit den Ärmel meiner Jacke den Mund ab.
Ich dachte an meinen Subaru auf dem Parkplatz, in dem ich Kleidung zum Wechseln und einen Schlafsack aufbewahre, seit ich einmal in einen Schneesturm geraten war und in der frostigen Hütte eines Freundes übernachten musste. In den Adirondacks heißt es:
Wenn dir das Wetter nicht gefällt, warte fünf Minuten.
Ich war als Sportreporterin der Lokalzeitung hierher gezogen und hatte entdeckt, dass man an einem Aprilnachmittag ein Baseballspiel in der Sonne genießen und nach dem vierten Inning im Schnee stehen kann.
Als wir die Straße erreicht hatten, wurde es dunkel, und der Nebel war zu einem leichten Nieselregen geworden. Ich setzte meine Kapuze auf und stapfte weiter. Als die Schritte neben mir langsamer wurden, schwang ich den Jungen wieder auf meine Hüfte.
Rechter Fuß, linker Fuß.
Ein Auto überholte uns, und erst als es verschwunden war, fiel mir ein, dass ich es hätte anhalten können. »Ich muss zu meinem Auto«, dachte ich. »Ich muss zu meinem Auto.« Erst da merkte ich, dass ich laut gesprochen hatte.
Jetzt konnte ich den Parkplatz und meinen blauen Subaru erkennen. Ich konnte wieder klar denken und stellte fest, dass dort absolute Ruhe herrschte. Es war wie bei dem merkwürdigen Ereignis mit dem Hund in der Nacht, das in einer Sherlock-Holmes-Geschichte vorkommt – merkwürdig deswegen, weil der Hund nichts getan hatte.
Am Fähranleger war nichts los. Keine Polizei. Keine Küstenwache. Keine besorgten Eltern, die nach einem kleinen, französisch sprechenden Jungen suchten, der von einer Fähre verschwunden war. Hätte sich nicht ein kleines, nasses Kind an mich geklammert, wäre ich überzeugt gewesen, alles nur geträumt zu haben.
|16| Der Junge begann zu zittern und mit den Zähnen zu klappern.
Schlüssel.
Ich klopfte auf meine Tasche.
Verdammt.
Vermutlich lag mein Schlüsselbund auf dem Grund des Lake Champlain. Aber Thomas, der Mann, mit dem ich zusammen war, hatte mir eine kleine Schlüsseldose geschenkt, die ich unter dem Auto befestigt hatte. Ich hatte es eigentlich nur deshalb getan, weil er mich sicher danach fragen würde. Ein seltsames Geschenk, hatte ich gedacht, so als könnte ich nicht auf mich selbst aufpassen. Und es wäre auch ganz schön gewesen, einmal etwas weniger Praktisches zu bekommen.
In diesem Augenblick aber war ich dankbar dafür. Ich tastete unter dem Wagen nach der kleinen Dose, die irgendwo hinten am schmierigen Unterboden befestigt war. Mit kalten Fingern öffnete ich sie, schloss den Wagen auf und holte die Kleidung hinter dem Vordersitz heraus. Dann öffnete ich die Kofferraumklappe und setzte den Jungen auf die Kante. Er ließ die Beine baumeln und schaute mich an.
Allmählich fiel mir mein Französisch wieder ein. Ich hatte es an der Universität gelernt, und da ich in der Nähe von Montreal wohne, wo es manche Menschen sehr erzürnt, wenn man Englisch mit ihnen spricht, übe ich im Auto mit CDs aus der Bücherei, sage französische Sätze auf und werde von den Leuten in den Nachbarautos komisch angeschaut.
»
Comment t’appelles-tu?
«, fragte
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