Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
Ich wollte dir all den Ärger ersparen. Deshalb war ich am Sonntag bei dir in der Wohnung, aber da war dieses junge Mädchen, und da konnte ich kaum … Dann noch mal nach dem Spiel, als wir in dem russischen Café saßen. Ich wollt' es dir sagen, wollt' es dir erklären. Aber es ist so kompliziert. Ich kam nur bis zu der Geschichte von meiner Schwester. Weißt du noch?«
»Ich weiß noch.«
»Sie war sehr hübsch, meine Schwester.« Moisches Stimme ist belegt und heiser. »Zart. Schüchtern – so schüchtern … Bei allem wurde sie rot. Einmal hab' ich sie gefragt, warum sie denn in Gesellschaft so schüchtern sei. Sie sagte, es sei ihr peinlich. Was sei ihr denn peinlich, fragte ich. Daß ich immer rot werde, sagte sie. Claude, das ist schüchtern. Schüchtern zu sein darüber, daß man schüchtern ist. Sie … sie steckten sie im Lager in eine Sonderbaracke. Das war … diese Baracken dienten …«
»Du brauchst mir das nicht zu erzählen, Moische.«
»Ich weiß. Aber einiges muß ich dir erzählen. Etwas, was ich erklären muß … um es loszuwerden. Wenn einer im klassischen Drama einmal in die unausweichliche Mühle des Schicksals gerät, gibt es für ihn kein Entrinnen, er muß die Strafe erleiden. Aber was ihm bleibt, ist, sich zu erklären und zu klagen. Ödipus hat nicht das Recht, mit den Göttern zu rechten, aber er hat das Recht, zu räsonieren.« Moische schlürft seinen Schnaps. »Als mir zu Ohren kam, daß meine Schwester in dieser Sonderbaracke war, weißt du, was meine erste Reaktion da war? Sie war: O nein! Sie nicht! Sie ist doch so schüchtern!«
LaPointe schließt die Augen. Er ist zutiefst erschöpft.
Nach einer Pause fährt Moische fort: »Sie hatte rotes Haar, meine Schwester. Wußtest du schon, daß Rothaarige schneller rot werden als andere? Aber ja. Aber ja.«
LaPointe schaut seinen Freund an. Die runden Brillengläser mit den Fingerabdrücken darauf spiegeln blendend grau den aufgerührten Himmel wider. Die Augen dahinter sind unsichtbar. »Und auch Yo-Yo Dery hatte rotes Haar.«
»Ja. Genau. Was für 'n Polizist hätte aus dir werden können.«
»Du bist mit Yo-Yo gegangen?«
»Nur ein einziges Mal. In meinem ganzen Leben war das mein einziges Erlebnis mit einer Frau. Stell dir vor, Claude. Ich bin jetzt zweiundsechzig Jahre alt, und ich hab' nur ein einziges körperliches Erlebnis mit einer Frau gehabt. Sicher, in meiner Jugend war ich fleißig, wissensdurstig … sehr religiös. Dann, als ich ein junger Mann war, haben mich andere Dinge beschäftigt. Politik. Philosophie. Ein, zwei Mädchen haben mich schon mal interessiert. Und ein paarmal kam eins zum anderen und ich war ganz nahe daran. Aber immer ging irgend etwas schief. Jemand, der des Wegs daherkam. Kein Plätzchen, wo man es tun konnte. Einmal, auf einem Feld, ein Regenschauer …
Dann kam die Zeit im Lager. Und danach war ich hier und hab' versucht, mir eine Existenz aufzubauen. Ach, ich weiß nicht. Irgendwas geschieht mit dir im Lager. Zuerst verlierst du deine Selbstachtung, dann deine Antriebe, schließlich deinen Verstand. Wenn man vor sich selber geschickt argumentiert, wenn man gewisse Dinge aus seinem Gedächtnis streicht, kann man seine Selbstachtung wiedererlangen. Aber wenn die Antriebe weg sind …? Und der Verstand …?
Also, kurz und gut, nach alledem bin ich nun ein Mann von zweiundsechzig Jahren mit nur einem einzigen Liebeserlebnis im ganzen Leben. Und es war wirklich ein Liebeserlebnis, Claude. Nicht für sie natürlich. Aber für mich.«
»Aber du kannst doch unmöglich Claire Montjeans Vater sein. Du warst doch noch nicht mal in Kanada …«
»Nein, nein. Als ich Françoise kennenlernte, hatte sie schon genügend Erfahrung, keine Kinder zu kriegen.«
»Yo-Yo hieß mit richtigem Namen Françoise?«
Moische nickt, seine hellbestrahlten Brillengläser funkeln. »Ich habe diesen Spitznamen gehaßt, ist doch klar.«
»Und du hast nur einmal geliebt?«
»Nur einmal. Und das auch noch durch Zufall. Ich sah sie immer am Laden vorbeigehen. Gewöhnlich mit Männern. Und immer hat sie gelacht. Ich wußte alles von ihr, die ganze Straße wußte es. Aber da war ihr rotes Haar … und irgend etwas in ihren Augen. Sie erinnerte mich an meine Schwester. Komisch, was? Ausgerechnet eine wie Françoise – laut, gesund und immer lustig – erinnerte mich an ein Mädchen, die so schüchtern war, daß sie immer rot wurde, weil sie so schüchtern war. Klingt doch albern.
Und doch …
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