Ein Herzschlag danach
war über die Kluft, die sich zwischen seinem Vater und seinem Bruder aufgetan hatte. Damals hatte ich nicht gewusst, ob ich Jack oder Alex jemals wiedersehen würde. Ich widerstand dem Impuls, das Foto vom Kühlschrank zu reißen und zu zerfetzen.
Das andere Foto, das ich aus den Augenwinkeln wahrnahm, wollte ich zuerst gar nicht richtig anschauen. Es war, als würde ich den Schorf von einer juckenden Wunde reißen – im ersten Augenblick Genugtuung, auf die aber sofort Schmerzen und neue Blutgerinnung folgten. Das Foto hatte Eselsohren und zeigte eine wunderschöne, lachende blonde Frau. Einen Arm hatte sie einem Jungen um die Schultern gelegt. Er blickte sie an. Der Junge war Jack und die Frau meine Mutter. Der obere Teil eines weiteren Kopfes war in der linken unteren Bildecke zu sehen, aber es ließ sich nicht sagen, ob es mich zeigte. Ich blieb vor dem Kühlschrank stehen, damit Jack das Foto nicht sah, bis mir einfiel, dass er es selbst dorthin gehängt hatte und wahrscheinlich jedes Mal betrachtete, wenn er die Milch herausholte. Das war immerhin ein Fortschritt, dachte ich.
»Nett hast du’s hier, Jack, echt«, sagte ich.
»Ja«, nickte er, »ich komme gerne nach Hause.«
Das glaubte ich ihm sofort. Ich beschloss, dass ich es wagen konnte, meine drängende Frage zu stellen. »Und wo wohnt Alex? Komisch, dass ihr keine gemeinsame Wohnung habt.« Na gut – an einem gleichgültigen Tonfall musste ich noch arbeiten.
Jack lachte. »Schwesterherz, entgegen der weitverbreiteten Meinung sind Alex und ich nicht an der Hüfte zusammengewachsen. Alex wohnt fünf Minuten von hier entfernt. Er hat sich eine absolut coole Junggesellenbude direkt am Wasser genommen.«
Mein Herz klopfte wie wild. Junggesellenbude?
Aber hallo. Natürlich mussten alle hinter Alex her sein. Er sah nun mal gut aus. Obwohl ich ihn natürlich durch eine rosarote Brille sah, war das eine unbestreitbare Tatsache. Alex und Jack hatten schon immer die höchsten Standards gesetzt, was gutes Aussehen und Charisma betraf. Als ich ungefähr zehn war, hatte ich unter tausend stillen Qualen miterlebt, wie Alex mit verschiedenen Mädchen ausging – alle älter als ich und alle füllten schon ihre BH -Körbchen aus. Ich hätte sterben können. Aber in der Fantasiewelt, die ich mir seit meiner Abreise zurechtgezimmert hatte, lebte Alex in einem frauenfreien Vakuum. Sonst hätte ich den Verstand verloren. Doch jetzt hatte mir Jack die Wörter »Junggeselle« und »Bude« hingeworfen und schon machte sich mein Gehirn daran, die sorgsam konstruierte Fantasie auszuradieren und sie mit Bildern von blauen Lagunen und Frauen in Bikinis zu ersetzen.
Krieg dich wieder ein , ermahnte ich mich streng. Es geht um Alex. Nicht um Jack. Alex war immer kühl und beherrscht, im Gegensatz zum extrovertierten Jack. Alex hatte nie den Mädchen nachgestellt, er war immer derjenige gewesen, der sich für Jack entschuldigt hatte, wenn der den Namen einer Freundin nicht mehr wusste. Alex hielt sich stets im Hintergrund und beobachtete mit belustigt gehobenen Augenbrauen, wie Jack auf die Jagd ging. Selbst wenn er in einer Junggesellenbude wohnte, hieß das noch lange nicht, dass er Nacht für Nacht eine andere zu sich einlud oder überhaupt irgendeine hatte.
Ja, klar, träum weiter, Lila .
»Was zu essen? Was zu trinken?«, fragte Jack.
Hungrig war ich ganz bestimmt nicht. Mein Magen war ein einziger Knoten. Ich schüttelte den Kopf.
Jack führte mich wieder in den Flur, wo er vor einem kleinen weißen Kasten an der Wand stehen blieb.
»Die Alarmanlage«, erklärte er und öffnete den Kasten. Ich sah eine Reihe von blinkenden Lichtern und ein Touchpad mit Buchstaben und Ziffern, richtig futuristisch.
»Der Code ist 121007«, sagte er. »Der Alarm muss auch eingestellt sein, wenn du da bist, nicht nur, wenn du gehst. Wenn er ausgelöst wird, solange du drinnen bist, wird das ganze Haus dichtgemacht. Du kannst dann nicht mehr hinaus. Bleib einfach ruhig und warte, bis ich komme – oder die Polizei.«
Ich starrte ihn schweigend an. Auf die Anweisungen hatte ich gar nicht geachtet, sondern nur auf den Code. Der Todestag meiner Mutter. Jack ignorierte meinen Gesichtsausdruck und schlug geräuschvoll die Tür des Kastens zu. Ich verstand seine Paranoia. Dad hatte in unserem Haus in London ebenfalls eine Alarmanlage installieren lassen. Aber auch ein Alarmsystem hätte Mum nichts genutzt.
Jack hob meine Tasche auf, die er am Fuß der Treppe hatte fallen lassen, und
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