Ein Jahr in Andalusien
der Plaza Larga, wo Esther wohnt, tobt jetzt in den frühen Abendstunden das Leben. Ein junger Mann mit Thaihosen und Rastazöpfen, der auf einer Bank
sitzt, spielt auf seiner Gitarre eine Bulería, ein Mädchen in kurzem Sommerkleid steht daneben und begleitet ihn mit ihren Händen – die Palmas, die
Handflächen, sind eines der wichtigsten Instrumente beim Flamenco. Ein paar der Tische auf dem Platz sind schon besetzt, die Kellner tragen Cañas,
kleine Gläser mit Bier, heraus, dazu gibt es riesige Portionen Ensaladilla Rusa – Kartoffel-Mayonnaise-Salat – oder Weißbrot mit Chorizo, scharfer
spanischer Paprikawurst. Wer in Granada ein Bier trinken geht, muss sich um sein Abendessen nicht mehr sorgen. Zu jedem Getränk gibt es ungefragt eine
Tapa dazu.
Ich klopfe an der niedrigen Holztür. Es dauert ein bisschen, bis Esther mit verschlafenem Gesicht öffnet. „Hola!“, ruft sie mir
entgegen und fällt mir um den Hals. Ein riesiger Hund drängt sich zwischen uns, „der gehört meinem neuen Freund“, sagt sie, als sie mich wieder aus der
Umarmung entlässt, und da sehe ich schon schemenhaft hinter ihr in der Dunkelheit des Wohnzimmers einen langhaarigen Mann mit nacktem Oberkörper auf dem
Sofa sitzen. „Wir haben gerade Siesta gehalten“, sagt sie entschuldigend und reibt sich die Augen. Seit ich Esther vor ein paar Jahren kennengelernt
habe, wechselt sie ihre Freunde genauso oft wie ihre Jobs. Immer ist es die große Liebe, und immer hält sie höchstens ein paar Monate. „Komm rein, das
ist Pedro“, stellt sie uns vor. Zwei Küsschen, und ich nehme neben ihm auf dem Sofa Platz. Während Pedro sich einen Tee macht, klärt Esther mich über
die wichtigsten Veränderungen in ihrem Leben auf. Esther ist Sozialarbeiterin und wieder einmal auf der Suche nach dem nächsten Aushilfsjob, Pedro ist
seit ein paar Monaten da – ein kleiner Rekord – und es hört sich alles so an, als würde er auch länger bleiben.
Eine Hand dreht eine Zigarette, die andere sucht zwischen den Sofaspalten nach einem Feuerzeug. Esther inhaliert tief und sagt dann wie nebenbei: „Du
hast übrigens schon ein Zimmer. Bei Charo ist was frei. Nachher schauen wir bei ihr vorbei.“ „Das ist ja wunderbar!“ Charo ist eine junge Künstlerin,
die in einem wunderschönen alten Haus mit Blick auf die Alhambra wohnt, nur ein paar Straßen weiter. Als ich in Granada studierte, war ich oft bei ihr
auf der Dachterrasse. Es war damals so etwas wie der Treffpunkt unseres Freundeskreises nach der Uni. Wenn ich in Deutschland an Granada zurückdachte,
erinnerte ich mich unweigerlich an Charos Terrasse.
Am liebsten würde ich gleich zu ihr gehen und alte Zeiten wieder aufleben lassen, aber erst einmal setzen wir unsan einen der Tische
an der Plaza Larga und bestellen uns ein paar Bier. Kaum haben wir uns niedergelassen, springt Esther schon wieder auf und begrüßt ein Pärchen, das
nebenan auf einer Bank sitzt. Die beiden gesellen sich dazu, und innerhalb weniger Minuten hat sich eine große Gruppe um uns geschart. Granada, wie es
in meiner Erinnerung lebt. „Das ist Veronica“, stellt Esther mich vor, und ich begrüße jeden Neuankömmling mit zwei Wangenküsschen. Alle reden
durcheinander, langweilig wird es nie, ich fühle mich wieder mitten in mein Studentenleben zurückversetzt. Nach zwei Bier sind wir satt und einer
schlägt vor, zum Aussichtsplatz Mirador de San Nicolás zu gehen.
Auf dem Spaziergang durch die verwinkelten Gassen des Viertels erzähle ich Eva, einer jungen Frau aus der Gruppe, dass ich auf der Suche nach
Protagonistinnen für einen Dokumentarfilm über die andalusische Frau bin. Gleich ist sie von der Idee begeistert und sieht sich anscheinend schon in der
Rolle der Protagonistin, denn sie erzählt mir von der eigenen Familie, vor allem von ihrer Großmutter. Die Geschichte klingt wirklich spannend. Seit sie
Witwe ist, ist die alte Dame anscheinend richtig aufgeblüht. „Sie tanzt Flamenco, spielt Theater und trifft sich mit Freundinnen zum Kaffee. Als mein
Opa noch lebte, wirkte sie hingegen, als wäre sie schon fast tot. Sie ging nie raus, war den ganzen Tag mit Kochen und Putzen beschäftigt und war ihm zu
Diensten.“ Eva selbst hat Regie in Barcelona studiert und versucht sich jetzt mit Kurzfilmen über Wasser zu halten. Ich notiere sofort ihre
Telefonnummer und wir verabreden uns vage auf einen Tee in den nächsten Tagen.
Vom Mirador San Nicolás blickt man direkt auf die Alhambra. Jetzt, im Dunkeln, sieht
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