Ein Jahr in Andalusien
sympathisch zu sein, denn sie bietet mir tatsächlich an, sich meines
hoffnungslosen Falles anzunehmen. Dann gibt sie mir noch den Namen eines Geschäfts mit, in dem ich mir die notwendige Ausrüstung kaufen kann. Das
Abenteuer Flamenco wird ernster als erwartet. Aber jetzt kann ich keinen Rückzieher mehr machen. Ich lasse die Höhlen des Sacromonte zurück, durchquere
die Gassen des Albayzin und nehme Kurs auf die moderne Stadt, um mich als Flamenca auszustatten. Ich bin mitten im Leben von Granada angekommen.
Oktober
Die Liebe im Flamenco-Lokal
Schon ein paar Mal war ich im Eshavira, seit ich in Granada angekommen bin. Doch jedes Mal schlägt mein Herz höher, wenn ich die Holztreppe erklimme,
die zu dem niedrigen Raum führt, in dem die Bühne des Lokals liegt. Mein Blick erfasst dann sofort alle Gesichter, und erst wenn ich sicher bin, dass ER
nicht da ist, suche ich mir einen Platz, am besten mit Blick auf den Eingang. Das Lokal, in dem jeden Sonntag ab elf Uhr abends Flamenco live zu sehen
und hören ist, ist für mich untrennbar mit Jaime verbunden. Kaum betrete ich die verrauchte Kneipe, taucht sein Lockenkopf vor meinem inneren Auge
auf. Heute Nacht ist es nicht anders. Nur dass dieses Mal mein Herz zu rasen beginnt, als ich die letzte Stufe überwunden habe. Denn da sitzt er in
einer Ecke, ganz in die Musik versunken, und klopft den Rhythmus mit der flachen Hand auf den Tisch. Ich bleibe zuerst wie versteinert stehen, alle
andalusische Leichtigkeit, die ich nach ein paar Wochen Granada verinnerlicht zu haben glaubte, ist auf einen Schlag von mir gewichen. Schließlich reiße
ich mich zusammen und gehe auf ihn zu. „¡Hola, que sorpresa! – Was für eine Überraschung!“, sage ich möglichst beiläufig. Jaime blickt mich mit
großen, dunklen Augen an und lächelt, schnell setze mich neben ihn, damit er meine Aufregung nicht gleich bemerkt. Wir sind beide alleine da, so wie
damals, als wir uns vor drei Jahren kennengelernt haben. „¿Qué tal? ¿Qué haces en Granada? – Wie geht’s? Was machst du in Granada?“, fragt Jaime mich
sofort. Offensichtlich ist er überrascht,mich wiederzusehen. Er hat sich gar nicht verändert. Ich entspanne mich, und ehe ich mich
versehe, tauschen wir uns lebhaft über die vergangenen drei Jahre aus, und gerade als wir zu unserem jeweiligen Beziehungsleben gelangen, treten der
Flamencosänger und die Tänzerin auf die Bühne.
Als der letzte Handschlag der Palma erklingt, verlassen wir das stickige Lokal und nehmen Kurs auf den Platz vor der Kathedrale von Granada, wo immer
ein paar Studenten jonglieren und andere Kunststücke vollführen, marokkanische Einwanderer, die tagsüber ihre Waren im Albayzin verkaufen, beim Bier mit
Granadinos plaudern. Jetzt, Mitte Oktober, wird es nachts schon kühl am Fuß der Sierra Nevada. Jaime erzählt mir wieder von den Flamencoliedern, deren
Texte ich leider nur selten verstehe, weil die Cantaores, die Sänger, die Silben so lange halten, bis sie für mich jeden Sinnzusammenhang
verlieren. Dann wage ich es tatsächlich, ihm das Ergebnis meiner wöchentlichen Bemühungen, den Flamencotanz zu lernen, vorzuführen. Er sieht mir mit
ernsthaftem Gesichtsausdruck dabei zu, wie ich meine Hände in der Luft winde und versuche, ein paar Taconazos, ein paar feste Schritte im
Flamenco-Rhythmus, auf das Kopfsteinpflaster des Kathedralenplatzes hinzulegen; plötzlich prustet er los. Sofort ringt er um Fassung und entschuldigt
sich, doch auch ich breche in Lachen aus. Ein Blick in sein Gesicht genügt und ich kann mir genau vorstellen, wie meine Darbietung ausgesehen haben
muss. Mit meinem Trampeltier-Gefühl lag ich vermutlich gar nicht falsch. Rhythmus und Koordination waren noch nie meine Stärke. Bei meinen Versuchen,
Jazztanz, Salsa oder Standardtänze zu üben, bin ich irgendwann immer frustriert vom Parkett gezogen. Wieso sollte das beim Flamenco – wo es nicht nur
auf die Schrittfolge, sondern auch noch auf das richtige Gefühl, „El Arte“, wie es die Andalusier nennen, ankommt – anders sein? „Ich frage mich
wirklich, wieso Amara sich so vielMühe mit mir gibt. Meinst du, sie hat einen siebten Sinn und mein verborgenes Talent entdeckt?“,
frage ich, und wieder müssen wir lachen. „Vielleicht sieht sie deinen Fall ja als besondere Herausforderung an?“ Aufgeben werde ich meine Tanzstunde
aber trotz mangelnden Talents nicht, der andalusische Ausdruckstanz fasziniert mich viel zu sehr, als dass ich schon jetzt einen Rückzieher
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