Ein Jahr in Lissabon
und allein für mich eingeschaltet wurden. Ich darf mit den Augen über die vier Ränge mit den hellblauen Sitzen und den filigranen, goldenen Balkonverzierungen wandern, hin zu einer Decke, an der die Porträts der wichtigsten Autoren der portugiesischen Literatur wie Medaillons prangen, von Gil Vicente über Luís de Camões bis hin zu Almeida Garrett. Darf auf die Bühne, auf der schon große Schauspieler wie Rosa Damasceno und ihr Mann Eduardo Brasão, der große Komiker der portugiesischen Theatergeschichte, Vasco Santana, die Grande Dame des portugiesischen Films, Beatriz Costa, António Silva, Irene Isidro, die „portugiesische Marlene Dietrich“, aber auch große Fadistas wie Amália Rodrigues, die Pianistin Maria João Pires, ja sogar Josephine Baker und Gilbert Bécaud gestanden haben. Darf durch die Tür im eisernen Vorhang, der vor Bränden schützt, hindurchschreiten und zum Schnürboden hinaufschauen, wo Punktzüge und Scheinwerfer hängen, die atmosphärisches Licht und schnelle Verwandlungen garantieren.Darf die Geheimlogen sehen, in denen sich – da zwinkert mir mein Kartenabreißer zu, denn auch Portugiesen über sechzig Jahren flirten noch gerne – die Liebespaare getroffen haben, um sich schöneren Dingen als dem Theater zu widmen. Und ich darf die Regieloge im zweiten Rang betreten, um über die Knöpfe auf den Mischpulten für Licht und Ton zu streichen. Kurz: Ich darf ein altes portugiesisches Theater und einen alten portugiesischen Kartenabreißer eine halbe Stunde lang ganz für mich alleine haben.
Und deshalb will auch ich noch eine Pointe verschenken, als ich mich schließlich verabschiede und für die wunderbare spontane Führung bedanke. Er könne noch so sehr über sein Land schimpfen, sage ich, bevor ich wieder auf die Rua Nova da Trindade hinaustrete – aber so etwas Besonderes wie einen Kartenabreißer, der ein heimlicher Geschichtenerzähler ist, gebe es nicht überall. Nein. So etwas gebe es nur in Portugal.
Agosto
D ASS ES IN L ISSABON AUCH EINE „OFFIZIELLE“ K ULTUR des Geschichtenerzählens gibt, erfahre ich im August im „SOU“, einem alternativen Café in Anjos, in das Teresa mich mitgenommen hat. Dort sind jeden ersten Freitag im Monat die „Contabandistas de Estórias“ zugange. Ein Wortspiel, denn „contrabandistas“ bedeutet im Portugiesischen „Schmuggler“ und „contar“ erzählen – die Contabandistas im „SOU“ schmuggeln also Geschichten. Unterschiedlichster Couleur. Afrikanische und japanische, selbst erfundene und tradierte. Heute Abend sind es Geschichten über Gott und den Teufel, die vorgetragen werden – von Helena, die im „normalen“ Leben eine Dokumentarfilmerin ist. Das Licht wird abgedunkelt, noch schnell ein Bier geholt, und dann hören alle Altersklassen zu, junge und betagte Menschen, Kinder und Erwachsene, wie Helena eines Tages von einem Mann besucht wird, der freundlicherweise ihr Badezimmer putzt, sich aber als Teufel entpuppt und … – und mehr wird an dieser Stelle nicht verraten.
Man könnte eine Stecknadel fallen hören, während Helena erzählt. Sie weiß, wie sie Spannung schüren kann, indem sie die Stimme senkt – und am Ende der Geschichte hat Helena noch einen Auftrag an die versammelte Zuhörerschaft: Alle sollen nach Phrasen über Gott und den Teufel suchen. „Morar em casa do diabo“, ruft der ältere Herr aus der hinteren Ecke spontan nach vorne – im Haus des Teufels wohnen, soll heißen, am Ende der Welt. „Pelo amor de Deus“, kontert die Dame neben ihm grinsend: um Gottes Willen. „Enquanto o diabo esfrega um olho“, steuert einJunge aus der vordersten Reihe schüchtern bei – während der Teufel sich das Auge reibt, also: im Handumdrehen. Auch Teresa gibt eine Phrase dazu: „O diabo anda solta!“ – und erklärt mir: „Das bedeutet: Der Teufel ist los!“ Nun fühlen sich alle angespornt, und es geht wild durcheinander: „Graças a Deus, Gott sei Dank!“ – „O diabo está no pormenor. Der Teufel steckt im Detail.“ – „Juro por Deus que heide. Ich schwöre bei Gott.“ – „Fugir de alguém como o diabo foge da cruz. Jemanden fliehen wie der Teufel das Weihwasser.“ – „Que diabo foi isso. Was zum Teufel war das?“
„Interessant“, stellt Helena schließlich fest, als eine stattliche Sammlung zusammengekommen ist: „Offensichtlich existieren im Portugiesischen mehr Redewendungen über den Teufel als über Gott.“ Unter dem Gelächter des gesamten Saales kommentiert
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