Ein Jahr in Lissabon
ich, denn ich habe angebissen. Er schürt die Spannung weiter und klopft, zwischen zwei Zigarettenzügen, an die Wand neben der Eingangstür: „Esta parede é falsa. Diese Wand ist falsch.“ – „A sério? Echt?“ Und nun kann er loslegen, der Kartenabreißer, hinter dem sich ein Geschichtenerzähler verbirgt. Ende der 1860er-Jahre sei das Gebäude zwar als ein Theater gebaut worden, im Laufe der Jahrzehnte jedoch auseinandergenommen, verändert und umfunktioniert worden. Der Eingang und die Bühne seien ursprünglich an anderer Stelle gewesen – sogar einen Tanzsaal habe es gegeben. Aber dann wurde 1920 ein Teil des Theaters von einer englischen Telefongesellschaft aufgekauft, und deshalb habe man monströs in den Korpus und die Eingeweide des Gebäudes eingegriffen, habe alles umgebaut – und das Theater eine Zeit lang als Kino missbraucht, ehe es während der Diktatur von der „Fundação Nacional para a Alegria no Trabalho“ zu einem Ort erklärt wurde, an dem „Freude in die Arbeit“ fließen sollte und man das Proletariat mit dem indoktrinierte, was die Regierung für Kunst hielt. Es klinge vielleicht ein wenig anstößig, aber diese Fundação leite das Theater noch immer – nun aber mit erweitertem künstlerischem Horizont und anderem Titel. „Muda o regime, mudam os nomes. Wechselt das Regime, wechseln auch die Namen.“
Ich staune angesichts dieses kenntnisreichen Monologs und äußere meine Faszination darüber, wie die Geschichte dieses Theaters zugleich die Geschichte Lissabons und Portugals widerspiegle. Der Kartenabreißer fühlt sich, das sehe ich, geschmeichelt. Aber wie es sich für einen guten Erzähler gehört, lässt er sich nicht auf meine Komplimente ein,sondern sorgt stattdessen für Irritation und sagt trocken: „Não gosto o teatro – ich kann das Theater nicht leiden.“ Er arbeite hier nur, weil die Rente nicht reiche. Ursprünglich beim Militär gewesen, weswegen er, das gebe er offen zu, die Linken nicht möge, sei er frühpensioniert worden, und mit 500 Euro pro Monat komme er einfach nicht über die Runden. Viel Luxus leiste er sich ja nicht, ab und zu einen Kaffee, ein Zigarettchen – und, seine heimliche Leidenschaft, alte Postkarten sammeln, weswegen er gerne auf dem Feira da Ladra herumstöbere. Er habe schon Fisch verkauft, um sich etwas dazuzuverdienen, er habe schon Eis verkauft. Und jetzt reiße er eben Karten im Teatro da Trindade ab. Das sei nicht schlecht, „mas, pronto, estamos em Portugal“ – eine Formel, die den Startschuss zur Abrechnung zu geben scheint: Wie ich doch bestimmt wisse, seien die Portugiesen faul. „Wenn wir das Wort Arbeit hören, machen wir so“ – und schon rennt er, den Arlecchino aus der Commedia dell’Arte karikierend, gen Notausgang. „Wir liegen lieber in der Sonne und schauen dem Leben dabei zu, wie es lebt. Das Einzige, was wir Portugiesen geschafft haben, ist, den Seeweg nach Indien zu entdecken – und Kirchen zu bauen. Igrejas, igrejas, igrejas. Porque temos tanto medo do inferno. Weil wir so entsetzlich viel Angst vor der Hölle haben. Und was wir noch können, ist: Korruption.“ Ob mir bekannt sei, dass der letzte Präsident, José Sócrates, ein falsches Diplom gehabt habe – es sei aufgeflogen, weil der Stempel der Universität das Datum eines Sonntags getragen habe. „São burros, os politicos! Alles Esel!“ Was haben wir denn schon hier in Portugal? Keine Industrie, keine Landwirtschaft, keine Kolonien, nichts. Wir haben nur eins: „Os Come-ons.“ – „Os Come-ons?“ – „Sim, os turistas“, enthüllt er, stolz, seine Pointe so geschickt gesetzt zu haben.
Doch nun haben sich noch weitere Besucher im Foyer versammelt, gleich beginnt die Aufführung, und der Kartenabreißer sagt, wenn ich später noch Zeit und vielleicht Interesse hätte, auch den großen Saal des Theaters zu sehen, würde er versuchen, jemanden von der Technik zu bitten, das Licht, das über einen Computer gesteuert werde, hochzufahren. Natürlich habe ich Zeit. Denn längst hat der Kartenabreißer die Bühne erobert, ihm gehört die Vorstellung des heutigen Sonntagnachmittags, nicht der Tanzperformance, für die ich mein Ticket gekauft habe.
Und so darf ich, nachdem ich in der schmucklosen, nüchternen Black Box die Choreografie eines jungen Künstlers gesehen habe und die anderen Besucher bereits wieder zum Ausgang strömen, den wunderschönen, leeren Sala principal des Teatro da Trindade betreten, dessen Kronleuchter heute einzig
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