Wir sind alle Islaender
Prolog
Der Krach war unglaublich laut an diesem hellen Sommerabend vor knapp zwei Jahren, vielleicht weil er wie eine Explosion in eine totale Stille hereinbrach. Wir, meine Frau Anna und ich, waren auf Flatey, der kleinen Insel im Breidafjördur, dem breiten Fjord im Westen Islands, und liefen sofort zum Fenster, um zu sehen, was eigentlich los war. Der Himmel war wolkenlos und tiefblau, nur ein leichter rötlicher Schimmer zeigte an, dass es bald Abend werden würde. Flatey ist ein ausgesprochen friedlicher Ort, das letzte Fleckchen Erde auf Island, das einem eine Ahnung davon gibt, wie ein Dorf aus dem neunzehnten Jahrhundert ausgesehen haben mag. Hier wurde immer Handel getrieben, selbst zu Zeiten der mehr oder weniger ständigen Hungersnot, die vor anderthalb Jahrhunderten viele Isländer nach Amerika trieb. Am Breidafjördur gab es immer Fisch und Fleisch, und selbst in den schlimmsten Zeiten mussten die Menschen hier nicht hungern. In den vergangenen dreißig Jahren wurden die Katen auf Flatey aufwendig renoviert und hauptsächlich als Sommerhäuser verwendet; im Winter dann wohnen nur noch zwei Bauern auf der Insel, die einander misstrauisch umkreisen, wie es sich gehört auf einer kleinen Insel. Das Dörfchen ist so pittoresk, dass es in der Vergangenheit mehrmals als Filmkulisse diente – einige deutsche
Leser mögen sich vielleicht sogar noch daran erinnern, denn dort wurde seinerzeit die beliebte Fernsehserie Nonni und Manni gedreht.
In den Sommermonaten legt die Fähre aus Stykkishólmur zweimal am Tag auf ihrem Weg zu den Westfjorden an, und am Wochenende drehen manchmal Touristen ihre Runden, um sich die hübschen Häuser anzuschauen oder zu den Vogelbergen zu spazieren; inzwischen gibt es sogar ein kleines Hotel auf Flatey. Aber unter der Woche ist normalerweise nicht viel los auf der Insel, und außer dem Vogelgesang und vielleicht einem kleinen Fischerboot in der Ferne herrscht Stille. Einen solchen Lärm hatten wir bei unseren vielen Besuchen auf Flatey noch nie erlebt. Wir starrten Richtung Kirche, dem höchstgelegenen Gebäude der Insel, und da kam er dann auch plötzlich zum Vorschein, der schwarze Hubschrauber, der den Krach verursachte. Fast schien es, als landete er auf dem Friedhof, aber die fünf Kinder im Dorf, die sofort losrannten, um sich das Spektakel anzusehen, stellten schnell fest, dass er sich die Wiese gleich nebenan als Landeplatz ausgesucht hatte.
Alle Dorfbewohner hatten sich versammelt, als zwei Männer – der Pilot und der Besitzer des Hubschraubers – ausstiegen, mit Sonnenbrillen und in diesen ganz leichten, schwarzen Lederjacken, die eher teuer als nützlich sind. Der Besitzer des Prestigeobjekts war ein Isländer, Olafur Olafsson, einer aus der relativ jungen Garde heimischer Milliardäre. Ein freundlicher Mann, vielen dadurch bekannt, dass er es sich hatte leisten können, Elton John für ein Privatkonzert zu seinem fünfzigsten Geburtstag einfliegen zu lassen. Und freundlich erwies er sich auch auf Flatey: Er ließ den Piloten mit den ältesten Kindern des Dorfes eine Runde über die Insel drehen, bevor
er sich für eine Nacht im Hotel einquartierte. Tags darauf flog er zum Hornbjarg, dem hohen, unzugänglichen Vogelberg an der nordwestlichen Spitze Islands, zu dem die meisten nur in ihren Träumen gelangen. Zu dieser Zeit war Olafur Olafsson einer der Hauptaktionäre der Kaupthing Bank, der größten isländischen Bank, und selbstverständlich steinreich. Kaupthing entstand nach der Privatisierung der Landwirtschaftsbank, Bunadarbankinn, die an Geschäftsleute ging, die der Progressiven Partei nahestanden – eigentlich ganz natürlich, da die Mitte-Rechts-Partei der Progressiven ursprünglich eine Bauernpartei gewesen war. In deren Firmengeflecht war Olafur Olafsson ein wichtiger »Player«, wie wir es schon damals zu nennen wussten, und so konnte er sich ein paar Jahre nach der Gründung der Kaupthing Bank einen Hubschrauber leisten, um sein Sommerhaus im Westen Islands aufzusuchen. Und Flatey, die Insel, die nur eine halbe Flugstunde davon entfernt lag.
Überhaupt scheint Olafsson eine Vorliebe für Inseln zu haben. Auf den Tortola-Inseln, einem Teil der britischen Jungfern-Inseln, gehören ihm bzw. seinen Gesellschaften wahrscheinlich mehrere Dutzend Firmen. Die Tortola-Inseln sind nicht viel größer als Flatey, aber statt zwei Bauern sind dort mehrere Hundert Firmen allein aus Island beheimatet – über die nicht viel größeren Cayman-Inseln sagte
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