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Ein Jahr in London

Titel: Ein Jahr in London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Regeniter
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zerspringen, ihr Inhalt sprüht durch die Luft, spritzt dem Kellner ins Gesicht und mir auf die Hose und die Schuhe.
    „Oh my God, I’m so, so sorry!“ , ruft er hektisch, und wischt das Schlimmste mit dem Lappen ab, den er über seiner Schulter hängen hat.
    „Oje, deine Hose ist ganz nass. Wie kann ich das nur wiedergutmachen?“
    „Na, das kann ja jedem mal passieren“, entgegne ich, „ist ja nur Bier.“
    Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, denke ich, und hebe vorsichtig meine ebenfalls durchnässte Tasche auf, bevor er anfängt, auch sie abzuwischen.
    „Weißt du was, meine Schicht ist in zehn Minuten vorbei, dann gebe ich dir als Wiedergutmachung ein Bier aus. Was hältst du davon?“
    Mein erster Gedanke ist, dankend abzulehnen, doch wer weiß, ob ich am heutigen Tag noch eine weitere Gelegenheit bekommen werde, mit einem Engländer ins Gespräch zu kommen. Und zwar mit einem sehr nett aussehenden noch dazu. Er hat, wie so viele Briten, ganz kurz geschorene, rotblonde Haare und ein typisch englisches Gesicht. Was daran so englisch ist, kann man gar nicht genau sagen, aber in Deutschland würde er als Ausländer auffallen.
    Ich stoße mit dem Fuß ein paar Scherben weg und lächle ihn an.
    „Ist nicht nötig. Aber wenn du darauf bestehst.“
    So lerne ich also Jake, meinen ersten waschechten Londoner, kennen, und nach ein paar Getränken und vielen Tipps, was man denn als richtiger Londoner alles so gesehen haben müsste, vereinbaren wir ein baldiges Wiedersehen, sobald ich eine Unterkunft gefunden und mein Vorstellungsgespräch überstanden haben würde.
    „Und zieh bloß nicht nach Südlondon! Selbst die Taxifahrer weigern sich, dorthin zu fahren. Und du wärst viel zu weit weg von Highgate.“

    In Deutschland ist es bei vielen Häusern so, dass ihr Innenausbau dem höchsten Standard entspricht, sie von außen jedoch charakterlosen Betonklötzen gleichen – in England ist es umgekehrt. Man betritt eine mit Efeu und wilden Rosen bewachsene Villa, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut wurde, um sich dann in einer Absteige wiederzufinden, die seit dieser Zeit keine einzige Renovierung erlebt hat. Und die nur zu mieten ist von Schlangenliebhabern mit einem Abschluss inMolekularbiologie. Denn bei vielen Wohnungen steht eine solch große Zahl von Interessierten zur Auswahl, dass die Vermieter oder „Landlords“, wie sie im Englischen eleganterweise heißen, problemlos die tollsten Anforderungen stellen können.
    Jeden Morgen stehe ich um sieben auf, um mir das Anzeigenblatt Loot zu kaufen, das hunderte von Wohnungs- und Zimmerannoncen enthält. Der pakistanische Kioskbesitzer kennt mich schon: „Na, haben Sie denn immer noch nichts gefunden? Aber verlieren Sie nicht die Geduld, Ihre Traumwohnung wartet schon irgendwo auf Sie.“
    Daran beginne ich allerdings allmählich zu zweifeln, denn nach einigen Tagen bin ich bei der Hälfte aller 275 Londoner U-Bahn-Stationen mindestens einmal ausgestiegen und habe trotzdem noch nicht mal eine halbwegs akzeptable Behausung zu Gesicht bekommen.
    Ich schaue mir Wohnungen an, deren Decken von Schimmelbefall fast schwarz sind, Badezimmer, in denen Pilze ungehindert in die Höhe schießen, und einmal muss ich durch das Schlafzimmer eines Mitbewohners gehen, um zu dem zu vermietenden Zimmer zu gelangen. Was auch nicht hilft, ist die Tatsache, dass englische Wohnungsanzeigen sehr unpräzise sind. Wohnungen werden einfach danach klassifiziert, wie viele Schlafzimmer sie haben. Ein „one-bedroom flat“ ist also eine 2-Zimmer-Wohnung, ein „two-bedroom flat“ eine 3-Zimmer-Wohnung, wogegen eine deutsche 1-Zimmer-Wohnung „studio“ genannt wird. Ich rufe bei einer als „good sized“ beschriebenen Wohnung mit Doppelzimmer an, deren Vermieter meine Fragen sehr verwirrend zu finden scheint.
    „ Sorry, Ihre Wohnung in King’s Cross, wie viele Quadratmeter hat die denn?“
    „ Excuse me? Was meinen Sie damit, Quadratmeter?“
    „Oh, Quadratfüße?“ Schließlich messen die Engländer ja alles in Füßen.
    „Keine Ahnung. Quadratfüße? Ich weiß nicht. Sie ist ziemlich groß.“
    Und in London bedeutet das, wie ich bei späterer Besichtigung entdecke, ganze 20 Quadratmeter.
    Einmal sehe ich mir eine Wohnung im Nobelvorort Kensington an, deren Mietpreis mir gleich verdächtig günstig erschienen war, nur um rauszufinden, dass die amerikanische Besitzerin von ihren Mietern verlangt, dass sie zweimal pro Woche kochen und auf ihre drei kleinen Kinder

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