Ein Jahr in London
aufpassen. Lust, neben meinem Lehrerberuf auch noch eine halbe Au-pair-Stelle anzunehmen, habe ich eigentlich nicht.
Aber nach einer ganzen Woche vergeblichen Suchens reicht es mir endgültig, und ich entschließe mich, die nächstbeste Wohnung zu nehmen, egal wo und wie klein. Mittlerweile ist mir klar geworden, dass die einzige bezahlbare Unterkunft in London selbst mit meinem relativ hohen Lehrergehalt nur ein Zimmer in einem „shared house“ ist. Das heißt: ein möbliertes Zimmer mit Kochnische plus geteiltem Badezimmer und Toilette und vielleicht noch einem Münztelefon auf dem Flur. Ich nehme entschlossen das Telefon in die Hand und melde mich auf alle Anzeigen, die auch nur irgendwie in Frage kommen.
„Hallo, ich rufe wegen dem Zimmer in Earl’s Court an – ist es …“ Der Gentleman auf der anderen Seite hat schon aufgelegt.
„Hallo, ist es möglich, sich das Zimmer in Kilburn anzugucken?“
„Du hast boyfriend? Wenn boyfriend, dann nicht, wenn kein boyfriend, dann du kannst kommen, heute Abend um zehn. Du willst?“
„Wir haben es gerade vor einer Minute vermietet.“
Ich will gerade aufgeben, als eine irische Stimme sagt, ich solle doch gleich vorbeikommen, und mir eine Adresse im nördlich gelegenen Primrose Hill nennt.
„Sie sind die Erste, die auf die Anzeige hin angerufen hat. Also, wenn Sie schnell sind, ist es Ihres!“
Wegen des irischen Akzents habe ich den Straßennamen nicht deutlich verstanden: 112 Gloucester Street – oder war esAvenue? Als ich im Straßenverzeichnis meines Londoner Stadtplanes nachschaue, stelle ich mit Schrecken fest, dass es um die fünfzig verschiedene Gloucester Streets, Crescents, Avenues, Lanes, Mews, Rises und was nicht noch alles gibt. Als ich endlich eine Gloucester Avenue in Primrose Hill gefunden habe, ist bereits eine Viertelstunde vergangen, und ich muss mich beeilen, damit mir nicht doch noch jemand das Zimmer vor der Nase wegschnappt.
Ich springe in die U-Bahn, die natürlich gleich im ersten Tunnel für zehn Minuten stehen bleibt. Eine halbe Stunde später komme ich dann aber doch bei der Station Chalk Farm an, und renne über eine kleine Eisenbahnbrücke bis zu der von dem Vermieter genannten Straße. Aber auch hier hört meine Not nicht auf, denn leider legen Engländer nicht viel Wert auf Hausnummern. Einige Häuser haben gar keine Nummer, andere Leute haben ihre Hausnummer so gut hinter Efeu oder Gebüsch verborgen, dass es dem besten Detektiv schwerfallen würde, sie aufzuspüren, und noch andere halten es für vornehm, ihren Häusern anstatt von Nummern ausgefallene Namen zu geben. So findet man mitten in London, weit entfernt von jedem Park oder Wald, Häuser mit so klangvollen Namen wie „Eulenruf“ oder „Waldesruh“. Und Namensschilder an Klingeln sind gänzlich unbekannt. Ich frage später unzählige Bekannte nach dem Grund dafür, und immer ist die Antwort: „Das wäre doch viel zu gefährlich.“ Worin die große Gefahr besteht, seinen Namen für Fremde sichtlich am Haus anzubringen, kann mir allerdings niemand erklären.
Und so suche auch ich erst mal eine ganze Weile erfolglos nach Nummer 112. Ich finde wohl Haus Nummer 106, aber dann gibt es ein mysteriöses Ausbleiben jeglicher Kennzeichnung. Nur eine einsame 2 hängt neben der Tür eines der Häuser, und ich rechne mir aus, dass dies wohl mein gesuchtes Haus sein muss.
Ich schaue mich vergeblich nach einer Klingel um, und probiere es schließlich mit dem Türklopfer, einem leicht lädiertenLöwenkopf aus Messing. Die Tür wirkt mit ihren Säulen und Verzierungen fast wie der Eingang zu einem klassischen Tempel. Nichts rührt sich, und ich schaue mich in der Straße um.
Primrose Hill hat sich in den vergangenen dreißig Jahren von einem der heruntergekommensten Viertel in einen der reichsten und hippsten Stadtteile verwandelt. Aber schon immer haben hier viel Künstler gewohnt. In den 1960er und -70er Jahren lebten hier, angezogen von den billigen Mieten, die Dichter Sylvia Plath und Ted Hughes, der Photograph David Bailey und sogar Paul McCartney. Heute läuft man Supermodels wie Kate Moss und Schauspielern wie Ewan McGregor und Jude Law über den Weg. Und Schriftsteller und Popstars gibt es hier so viele, dass einem auf einem halbstündigen Spaziergang garantiert zwei oder drei begegnen.
Die New-Age-Druiden, die auf der Anhöhe des Primrose Hill Parks bei jeder Sommersonnenwende merkwürdige Zeremonien vollführen, bestehen darauf, dass die Faszination dieses
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