Ein Jahr in San Francisco
den ich mich mehr begeistern kann. Womöglich bin ich aber auch nur infiziert von den emotionsgeladenen, grölenden Menschen, die um mich herum aufgeregt auf ihren Sitzen wippen und nervös einen Nacho nach dem anderen in die sowieso schon weit geöffneten Münder schieben.
„Hier, deine Pommes.“ Vijay hält mir die gelb glänzenden Kartoffelecken unter die Nase, über und über mit Grünzeug besprenkelt. „Was ist denn damit passiert? Bist du ins Gras gefallen?“, frage ich vorwurfsvoll. „Das nennt man auch Petersilie“, schlaumeiert Vijay, und Charles vermutet, es handelesich bestimmt um eine der Go-Green -Maßnahmen des Stadions. „Dabei hat Hanni heute schon genug vom Go-Green -Movement“, ergänzt er und macht sich darüber lustig, dass beim Ausladen unserer Einkäufe eine ökologische Papiertüte gerissen ist und alle Tomaten und Äpfel die Lombard Street hinunterkullerten. „Haha“, sage ich grimmig. Nicht nur das: Ich hasse Petersilie. Ansonsten esse ich alles, aber bei Petersilie graut es mir – warum auch immer!
San Francisco und sein „grüner Daumen“: Papiertüten, die aufweichen, Taxis mit Hybridantrieb, die so leise sind, dass man sich zu Tode erschreckt, wenn sie einem plötzlich fast in den Hacken stehen, Öko-Fashion, die sich vor lauter Umweltverträglichkeit beim Waschen auflöst, und glückliche Starbucks-Mitarbeiter, die in eine Lobeshymne verfallen, wenn man seine eigene Tasse von zu Hause mitbringt. Natürlich finde ich die „grünen Initiativen“ der Stadt vorbildlich: Ich trenne Müll, shoppe organisch und habe mich von Plastiktüten verabschiedet. Heute jedoch steigt mir die grüne Welle, die meterhoch durch San Francisco schwappt, ein wenig zu Kopf. Selbst Good Vibrations , die in San Francisco gegründete Erotik-Kette, hat mittlerweile ein sogenanntes Ecorotico- Ranking eingeführt, das die Produkte entsprechend ihrer Umweltfreundlichkeit bewertet. Nicht zu vergessen das von Harvey Milk durchgesetzte Scoop the Poop -Gesetz von 1978, das Hundebesitzer dazu zwingt, die Geschäfte ihrer Vierbeiner entsprechend zu beseitigen und in kleinen Plastiktüten nach Hause beziehungsweise bis zum nächsten Mülleimer zu tragen. Einmal im Jahr findet ebenso das sogenannte Green Festival in San Francisco statt, bei dem die rund 30 000 Teilnehmer unter dem Green-Motto networken, tanzen, trinken und essen. Wahrscheinlich ist San Francisco nicht nur in seiner Satellitenansicht einem in den Pazifik gepressten, begrünten Daumen sehr ähnlich, sondern hatauch genau diese Einstellung: ein liberaler, grüner Daumen der linken Küste eben!
„Jetzt reg dich ab und konzentrier dich auf das Spiel. Sonst verstehst du gar nichts“, unterbricht Vijay meinen Grünkoller, und ich verfolge weiter das erste Football-Spiel meines Lebens: Süße Cheerleader mit glänzenden Pompons und kurzen Röckchen hüpfen schreiend über das Feld und kräftige Kerle, die Spaß daran haben, sich alle paar Minuten aufeinanderzuwerfen und auseinandergepfiffen zu werden, wenn es gerade spannend wird. Dazu meine grünen Petersilie-Pommes und ein wässriges Bud Light – da lobe ich mir doch den deutschen Fußball mit einer schönen Stadion-Bratwurst und einem guten Bier.
Während ich mir manch deutsche Traditionen (mehr Achtung vor dem deutschen Reinheitsgebot wäre ein Anfang) in den USA wünschen würde, täte Deutschland gut daran, den einen oder anderen Brauch unserer amerikanischen Freunde zu importieren: Thanksgiving zum Beispiel. Hätten wir doch auch bloß eine Historie, die auf die pilgrims , das heißt: die Gründerväter, und deren Ernte zurückblickt! Obwohl das mehrtägige Futtergelage mit vielen Risiken wie schädlicher Familien-Überdosis, möglicher Überfettung oder einem schmerzvollen turkey hangover verbunden ist, hat es in den USA beinahe schon mehr Kultstatus erlangt als bei uns das Weihnachtsfest. Im Büro können meine Kollegen seit Tagen das Fest kaum erwarten, sie diskutieren Cranberry-Saucen und Kürbis-Rezepte, und am Vortag ist der Freudentaumel so groß, dass das Büro gegen Mittag gähnend leer ist. Nur noch Vijay und ich sitzen einsam und verlassen zwischen unseren flimmernden Laptops, ein paar dekorativen Plastikgrabsteinen und grinsenden Kürbissen. Bereits seit Tagen tragen die San Franciscans kugelig-pralle Truthähne aus den Supermärkten und wuchten die schweinchenfarbigen Geflügeltiere in ihre Kofferräume oder auf dieunter dem Gewicht der Tiere beinahe zusammenbrechenden
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