Ein Jahr in San Francisco
alle für das bevorstehende Thanksgiving-Fest ein“, antwortet Charles ganz entspannt. Ich blicke auf die langen Warteschlangen an den Kassen und bezweifle, ob wir uns dort wirklich anstellen sollen. „Come on, so schlimm wird es nicht“, winkt Charles ab und beginnt, Lebensmittel in den Einkaufswagen zu werfen. „Als Amerikaner mag man eben das Anstehen, richtig?“, merke ich scherzend an. Kürzlich habe ich nämlich bei „Spiegel online“ gelesen, dass der Durchschnittsamerikaner in der Tat bis zu drei Jahre seines Lebens mit Warten verbringt. Also, stürzen wir uns ins wilde Getümmel!
Zurück im Auto, ist mein Kopfschmerz verflogen. Und ich kann gar nicht anders, ich muss Charles wieder fragen: „Könnten wir nicht vielleicht noch mal …?“ – „Was? Schon wieder?“ Grinsend rückt er seine Sonnenbrille zurecht. „Bitte, ich bekomme einfach nicht genug davon.“ Er lacht. „Du bist im Herzen immer noch ein Tourist.“ Ich werfe ihm eine Kusshand zu. „Danke“, sage ich. Alle Touristenallüren habe ich inzwischen abgelegt – nur eben diese eine nicht: Bis heute kann ich nicht genug davon bekommen, die wilden Kurven der Lombard Street hinunterzufahren. Dabei ist es übrigens noch nicht einmal die kurvenreichste Straße (crookedest street) von San Francisco. Das ist nämlich die Vermont Avenue zwischen der 22 rd und 23 rd Street. Doch die ist nur wenigen bekannt!
Während Charles die steilen Haarnadelkurven von der Hyde Street zur tiefer gelegenen Leavenworth Street geschickt hinunternavigiert, schaue ich aus dem Fenster und beobachte amüsiert die Touristen, die am Straßenrand stehen und wild vor den Fotokameras ihrer Freunde oder Familienmitglieder herumzappeln, um seltsame Sprungfotos über der Bucht von San Francisco zu schießen. Mühsam klettern sie an den mit bunten Hortensien bepflanzten Blumenbeetenentlang oder steigen keuchend die Treppenstufen hinauf und wieder herunter, um die Häuser entlang der kurvigen Straße in Augenschein zu nehmen.
Merkwürdig, einige der Fenster sind mit Plakaten beklebt, die die Namen von politischen Kandidaten tragen. In Deutschland habe ich bisher noch keine Wahlplakate an Privathäusern gesehen. „Steht jetzt irgendeine Wahl an?“, frage ich Charles, der gerade über eine ältere Touristin schimpft, die samt Fotokamera mitten auf der rot gepflasterten Fahrbahn steht. „Ja, die Wahl des Bürgermeisters. Insgesamt sind sechzehn Kandidaten für das Amt im Rennen; die meisten davon Demokraten.“ – „Wieso nur so wenige Republikaner?“ Charles schaut mich schief an: „Du willst wirklich über Politik sprechen?“ Ich nicke eifrig. „Na gut, wenn du unbedingt willst“, gibt er sich geschlagen und erzählt, dass in San Francisco die Republikaner mit knapp zwanzig Prozent recht schwach vertreten sind. „Kalifornien ist eben als die linksliberale Küste bekannt – die left coast . Dieses Jahr kandidieren für das Amt des Bürgermeisters auch eine Schauspielerin sowie ein Taxifahrer.“ – „Ein Taxifahrer?“ – „Ja, genau. Es sind immer ein paar Exoten dabei.“ Charles umfährt eine weitere Gruppe von Touristen und atmet auf, als wir endlich den Touristenpulk hinter uns gelassen haben. „Hier herrscht die Überzeugung, dass jeder alles schaffen kann – unabhängig von Geschlecht, Beruf und Hautfarbe“, fügt Charles hinzu. „Stimmt, da muss man sich nur Schwarzenegger, den Austrian Oak , anschauen. Vom Bodybuilder zum Gouverneur – wer schafft das schon?“
Was die politische Gesinnung in San Francisco ausmacht, ist es nicht allein die You-can-do-it-Mentalität, die hier zum Tragen kommt, sondern auch der rebellische Geist. Ich muss an den Song von den „Toten Hosen“ denken: „Dagegen“. In meinem Kopf steigt wieder ein Bild auf, das ich schon hatte,als ich mit Vijay Anfang des Jahres nach dem Tech-Event nach Hause gefahren war: die kleine Insel San Francisco, die einem ausrangierten Oldtimer gleicht, in dem all die rebellischen Freigeister der Stadt ihren Platz finden. Steinreiche Internetmillionäre sitzen dort neben rauchenden Hippies, gestikulierende Italiener neben andächtig schweigenden Chinesen, sportliche Surfer neben diskutierenden Politik-Studenten aus Berkeley, und niemand wundert sich über die Andersdenkenden. Vielmehr halten all die Lebenskünstler ihre Köpfe und die amerikanische Flagge aus dem Fenster, schreien wie an der Speakers Corner im Londoner Hyde Park ihre Ideen in die Welt hinaus und wettern gegen George
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