Ein Jahr in San Francisco
die Pakete werden eine Woche brauchen. Da Charles ein Wein-Event in der Stadt hat, kann er mich mitnehmen und am Union Square absetzen. Mittlerweile hat er übrigens auch sein Auto dekoriert: mit roten Rentier-Geweihen, die links und rechts an den Vordertüren seines Mini angebracht sind.
Als ich wenig später aus dem Auto steige, nieselt es leicht – typisches Dezemberwetter eben. Zumindest ist es mild, und während die Touristen mit Regenschirmen gewappnet in den Eingängen von Niketown und Macy’s Unterschlupf suchen, laufen die San Franciscans in bunten Kleiderkombinationen – teilweise mit Flip-Flops, teilweise mit Wintermantel und Stiefeln – durch die Straßen. Keiner weiß so genau, wie umzugehen ist mit dem ständig wechselnden Winterwetter. Ich hetze durch die Läden rund umden Union Square, kaufe Elchtier-T-Shirts bei Abercrombie , pinkfarbene Unterwäsche bei Victorias Secret und eine dunkle Levis- Jeans für meinen Vater. Doch in Gedanken bin ich die ganze Zeit nur bei Healthquestion . Amber hatte sich bis jetzt noch nicht gemeldet, und Vijay und ich sehen unsere Hoffnung dahinschwinden, einen Platz in dem Gründerprogramm zu erhalten. Selbst wenn es klappen würde, wüsste ich nicht genau, wie es mit mir weitergeht. Schließlich ist die Zeit bei meinem Arbeitgeber in San Francisco auf ein gutes Jahr beschränkt. Nur noch wenige Wochen bleiben mir. Würde ich wiederkommen wollen, müsste ich meinen Job in Deutschland sicherlich aufgeben und dann hier mein Glück versuchen.
Es dämmert bereits, ich stelle mich an den Union Square und warte auf das nächste Cable Car. Über und über kommt es mit rotem und grünem Lametta und goldenen Weihnachtskugeln geschmückt angerollt. Ich springe auf und setze mich neben eine vierköpfige Familie. Als das Cable Car an der Ecke Sutter Street und Powell Street hält, spielt ein Mann auf einer Trompete Weihnachtsmusik. Ein kleines Mädchen singt dazu mit samtener Stimme, die sich mit den Fahrgeräuschen der Kabelwagen, die den Berg hinaufschnaufen, vermischt.
Wehmütig denke ich an die vorweihnachtlichen Konzerte in Deutschland, zu denen mich meine Eltern ab und zu eingeladen hatten. „Weihnachtskonzerte gibt es hier doch auch“, hat Mari Carmen vor ein paar Tagen gesagt und mir die Optionen aufgelistet: „A Christmas Carol “ wird im American Conservatory Theater gespielt, im San Francisco Ballett könnten wir „The Nutcracker“ anschauen und in der Grace Cathedral in Nob Hill wird „Messiah“ von Händel gespielt. Eigentlich genug weihnachtliche Klänge, aber es fühlt sich eben doch nicht ganz wie die Weihnachtszeit in Deutschland an.
Unter mir dröhnt das Cable Car, ich überhöre fast das Klingeln meines Handys in der Tasche. Im letzten Moment nehme ich ab: Es ist Amber. „Hanni, es tut mir leid, dass wir uns jetzt erst melden. Entschuldige auch, dass ich am Sonntag anrufe, aber wir haben bis heute am Auswahlprozess gesessen.“ Mein Atem stockt. Würde Amber uns nun absagen? Was wäre, wenn es nun wirklich klappen sollte? Würde ich wirklich einen sicheren Job in Deutschland für ein risikobehaftetes Start-up aufgeben? „Congratulations! You guys are in the program“, gratuliert Amber fröhlich. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Selbst wenn wir durch das Gründerprogramm einen Zugang zu Kapital erhalten, hieße dies nicht, dass Healthquestion ein Erfolg werden würde. Obwohl wir bereits einen Businessplan besitzen und an einem Prototyp arbeiten, könnte es sein, dass unser Start-up-Pflänzchen dem harten Wind, der im Silicon Valley pfeift, nicht dauerhaft standhalten würde und einginge, bevor es die ersten Früchte trägt. Da ist sie wieder: meine deutsche Angst vor zu viel Risiko und Ungewissem. „Hanni?“
„That’s amazing. I mean, that’s awesome …“, stottere ich. Der Cable-Car-Fahrer ruft den Halt an der nächsten Straßenecke aus, wo ich eigentlich aussteigen möchte. „Honestly, I can’t believe it“, sage ich dann mit gefasster Stimme. Statt auszusteigen, fahre ich weiter den Hügel nach Nob Hill hinauf – vorbei an den weißen Fassaden der noblen, alten viktorianischen Häuser, in deren weihnachtlich erleuchteten Eingangsfluren die Portiers vor glitzernden Weihnachtsbäumen stehen und uns freundlich grüßen. Noch weiter hinauf bis nach Russian Hill , wo stattlich geschmückte Häuser auf den Hügeln der Stadt mit den Sternen um die Wette funkeln.
Ich kann aus diesem Traum jetzt nicht aussteigen, und ich denke
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