Ein Jahr in San Francisco
zusammen, Mari Carmen hat ihm noch einen „leichten“ Tritt unter dem Tisch verpasst. „Sei weiter so aggressiv und du wirst gleich bei den Jungs hier in das Programm aufgenommen“, blödelt Vijay und trinkt sein Bierglas in einem Zug leer.
Als unser Kellner nach dem Essen dann die Rechnung auf den Tisch legt, sind alle sehr erstaunt. „Was?“ – „Da haben die was vergessen.“ Mari Carmen rechnet nach: „Wir sind acht Leute, Rose ist das Geburtstagskind. Das macht zwanzig Dollar pro Person.“ – „Hast du das Trinkgeld schoneingerechnet?“, fragt Alex. Mari Carmen rechnet ein zweites Mal nach und schüttelt den Kopf: „Total billig für San-Francisco-Verhältnisse!“ Normalerweise muss man für ein Abendessen um die dreißig bis vierzig Dollar pro Person ansetzen; wenn jemand Geburtstag hat, entsprechend mehr. Und ein angemessenes Trinkgeld liegt immer zwischen fünfzehn und zwanzig Prozent. „Rose, dann können wir dich jetzt noch auf einige Drinks einladen“, freut sich Mari Carmen. Vijay legt dem Kellner unsere sieben Kreditkarten vor mit der Bitte, den Gesamtbetrag entsprechend aufzusplitten. Ob das gut geht? „Thanks a lot – I will be back in a minute.“ Der Kellner nimmt lächelnd den Teller mit den Kreditkarten vom Tisch. Ich atme auf. Dank sei dem Serviceparadies der Vereinigten Staaten von Amerika, wo man Rechnungen unter beliebig vielen Menschen aufteilen kann, und wo es keinen stört, wenn man seinen Kaffee für zwei Dollar mit einer Kreditkarte bezahlt.
Draußen weht ein kühler Wind von der nächtlichen Bucht zu uns herüber. „Rose, what’s your plan?“, fragt Vijay erwartungsvoll, während das Geburtstagskind gerade damit beschäftigt ist, zwei ihrer Freundinnen zu verabschieden. „Karaoke!“, ruft sie freudig und trällert in ein imaginäres Mikrofon, das sie sich mit der Hand vor den Mund hält. „Karaoke? Willst du nicht lieber tanzen gehen, in der Beauty Bar in der Mission oder im Le Colonial ?“ Meine Gesangskünste sind unerträglich. „Keine Widerrede. Das Mint auf der Market Street ist super.“ Rose winkt schon ein Taxi heran.
In der Karaoke-Bar kann ich mich glücklicherweise etwas im Hintergrund halten. Ich gebe die Backgroundtänzerin für Vijay und Alex, die beide eine Show abziehen. Vijay tanzt den Moon Walk zu „Billie Jean“ von Michael Jackson, wobei er so sehr mit dem Oberkörper wackelt, dass es fast einer indischen Bollywood-Tanzeinlage gleichkommt. Alex grölt ins Mikrofon und bewegt dazu seine Hüften so ausdrucksvollwie eine füllige Gospelsängerin. Währenddessen versuche ich, mit meinem Gezappel am Rand der Bühne möglichst wenig aufzufallen. Und die beiden ernten so viel Applaus, dass sie sofort einen weiteren Michael-Jackson-Auftritt hinlegen und wir sie am Ende von der Bühne zerren müssen. Andere wollen ja auch mal ...
Am Morgen danach wache ich verkatert auf. Charles’ Mixer klappert in der Küche, und ich frage mich manchmal, ob er sich auch von etwas anderem als von seinen gesunden Proteindrinks und Gemüse-Cocktails ernährt. Wenn ich mir Spaghetti mache, trinkt er einen Tomatensaft. Wenn ich eine Packung Chips aufreiße, stibitzt er sich nur eine Mandel gegen den Appetit. Von seinen regelmäßigen Weinverkostungen einmal abgesehen, lebt er so gesund, dass es mich hin und wieder richtig nervt. Sein Biofimmel scheint jedoch Erfolg zu zeitigen, denn obwohl er auf Ende dreißig zugeht, hat er noch keine einzige Falte im Gesicht und ist fit wie ein Mittzwanziger.
„Good morning, sunshine! How are you?“, begrüßt er mich gut gelaunt, als ich mit dickem Kopf in die Küche trotte, um meiner Koffeinlust zu frönen. „Hm, bin noch soo müde“, murmle ich vor mich hin. „Darling, es ist zwölf Uhr – du warst aber noch lange unterwegs. Ich fahre gleich zu Trader Joe’s zum Einkaufen. Willst du mit?“ Mit einem Löffel kratzt er das Mixerglas leer. Ich überlege kurz. Lust habe ich keine, aber wenn Charles alleine fährt, kauft er wieder nur so gesundes Zeug und vergisst dabei meinen Käse und mein Graubrot. Und das brauche ich für meine deutschen Brotstullen. „Ich komme mit. Sonst verfällst du wieder deiner organic panic“, gähne ich. Charles lacht. „Ich gehe eben noch duschen“, sage ich und schlurfe lustlos ins Bad.
Als wir bei Trader Joe’s , dem Nobel-Aldi für Bio-Liebhaber, ankommen, platzt der Laden schier aus allen Nähten.„Was ist denn heute hier los?“, frage ich. „Die Leute kaufen wahrscheinlich schon
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