Ein kalter Strom
waren. Ihr früherer Vorgesetzter, Chief Constable John Brandon, hatte sie schon lange angehalten, von der vorderen Front der Polizeiarbeit in den strategischen Bereich von Nachrichtendienst und Fallanalyse überzuwechseln. Anfangs hatte sie sich dagegen gewehrt, weil ihre frühe Bekanntschaft mit dem Bereich ihr zwar einen deutlich besseren Ruf verschafft, sie aber zugleich in emotionale Verwirrung gestürzt hatte, bei der ihre Selbstachtung einen einmaligen Tiefpunkt erreichte. Schon der flüchtige Gedanke daran ließ das Lächeln von ihrem Gesicht verschwinden. Sie blickte in ihre ernsten grauen Augen und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie an Tony Hill denken konnte, ohne dass ihr im Magen flau wurde.
Carol hatte wesentlich dazu beigetragen, dass zwei Serienmörder zur Strecke gebracht wurden. Sie hatte ein außergewöhnliches Bündnis geschlossen mit Tony, einem Psychologen und Fallanalytiker, der selbst mehr als genug psychische Schäden hatte, um die klügsten Köpfe zu verwirren. Diese Allianz hatte all ihre Abwehrmechanismen überbrückt, die sie in den zwölf Jahren bei der Polizei errichtet hatte, und ihr war der Grundfehler unterlaufen, dass sie sich jemanden zu lieben erlaubte, der es nicht zuließ, dass er ihre Liebe erwiderte.
Seine Entscheidung, sich von der Front zurückzuziehen und nur noch im akademischen Bereich zu arbeiten, war für Carol wie eine Erlösung gewesen. Endlich fühlte sie sich frei, ihrem Talent und ihren Wünschen zu leben und sich auf die Art Arbeit zu konzentrieren, für die sie am besten geeignet war, ohne durch Tonys Anwesenheit abgelenkt zu werden.
Nur war er trotzdem immer präsent; sie hörte seine Stimme in ihrem Kopf, und sein Blick auf die Welt beeinflusste ihre Gedanken.
Carol fuhr sich frustriert durch die struppigen blonden Haare. »Scheiß drauf«, sagte sie laut vor sich hin. »Das ist jetzt meine Welt, Tony.«
Sie wühlte in ihrer Tasche und fand ihren Lippenstift, besserte schnell ihr Make-up aus und lächelte ihrem Spiegelbild wieder zu, diesmal entschieden trotziger. Das Team hatte sie gebeten, in einer Stunde wiederzukommen, um die Entscheidung zu hören. Sie beschloss, in die Kantine hinunterzugehen und zu Mittag zu essen, denn vorher war sie zu nervös zum Essen gewesen.
Mit federndem Schritt kam sie aus der Toilette. Vor ihr bimmelte weiter vorn im Korridor der Aufzug. Die Türen gingen auf, und ein hochgewachsener Mann in Paradeuniform trat heraus und bog nach rechts ab, ohne in ihre Richtung zu blicken. Carol verlangsamte den Schritt; sie hatte Commander Paul Bishop erkannt und fragte sich, was er bei NCIS zu tun hatte. Das letzte Mal, als sie etwas über ihn gehört hatte, war er einer Abteilung im Innenministerium zugeteilt worden. Nach dem dramatischen, chaotischen und peinlichen Debüt der Nationalen Einsatzgruppe zur Erstellung von Täterprofilen, der er vorstand, wollte niemand in prominenter Stellung, dass Bishop in einer irgendwie öffentlich exponierten Position arbeitete. Zu ihrem Erstaunen ging Bishop direkt auf den Raum zu, aus dem sie zehn Minuten zuvor herausgekommen war.
Was war hier bloß los? Warum redeten sie mit Bishop über sie? Er war nie ihr Vorgesetzter gewesen. Sie hatte sich einer Versetzung zu der neu entstehenden Task Force für Täterprofile hauptsächlich widersetzt, weil es Tonys persönlicher Wirkungsbereich war und sie vermeiden wollte, dass sie ein zweites Mal eng mit ihm zusammenarbeiten musste. Aber trotz ihrer guten Absichten war sie in den Sog einer Ermittlung geraten, die sich nie so hätte abspielen sollen, wie sie lief, und hatte dabei gegen Regeln verstoßen und Grenzen überschritten, an die sie lieber gar nicht denken wollte. Jedenfalls wollte sie nicht, dass Paul Bishop ihre Vergangenheit ausgerechnet vor den Befragenden zerpflückte, die entschieden, ob sie die Stelle einer hochgestellten Fallanalytikerin bekam. Er hatte sie nie gemocht, und da Carol die leitende Beamtin bei der Überführung des bekanntesten Serienkillers Englands gewesen war, hatte er den größten Teil seines Ärgers über die eigenwillige Ermittlung auf sie persönlich gerichtet. Sie nahm an, es wäre ihr in seiner Situation genauso gegangen. Aber das machte ihr den Gedanken auch nicht angenehmer, dass Paul Bishop gerade den Raum betreten hatte, wo über ihre Zukunft entschieden wurde. Plötzlich hatte Carol keinen Appetit mehr.
»Wir haben Recht gehabt. Sie ist perfekt«, sagte Morgan und tippte mit dem Bleistift auf
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