Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
i Der Anschlag
Ein leichter Nieselregen, durchsetzt mit Böen von kaltem, nassem Schnee fegt durch die Häuserschluchten des ehemals ehrwürdigen Prinzipalmarkts und überzieht das löcherige Kopfsteinpflaster mit einem öligen Film. Die Sonne ist gerade erst untergegangen, noch zeigt der Himmel im Westen eine schmuddelig graugelbe Farbe. Die dichte Menschenmenge, die sich vor dem Rathaus drängelt, lässt sich weder vom Wetter noch von der einsetzenden Dunkelheit die Laune verderben. Heute ist großer Bahnhof angesagt, denn im Friedenssaal findet der alljährliche Debütantinnenball des Geld- und Landadels statt. Alles, was in Stadt und Umgebung von Rang und Namen ist, hat sein Kommen angekündigt und wenn die Crème de la Crème des Münsterlandes sich herablässt, in exklusiver Runde das Tanzbein zu schwingen, darf das Publikum nicht fehlen.
In gemächlichem Tempo zieht eine Reihe von Nobelkarossen und geschlossenen beheizten Kutschen von der Rothenburg den Prinzipalmarkt hinauf, um ihre wohlsituierte Fracht vor dem gediegenen Bogenhaus mit dem eigenwilligen gotischen Giebel abzuladen. Gerade hält ein antiker Geländewagen aus der Zeit kurz nach der Jahrtausendwende vor der ausladenden Freitreppe. Ein als Kiepenkerl verkleideter Chauffeur springt aus dem Wagen, reißt die hintere Tür auf und hilft einer jungen Frau nebst männlicher Begleitung aus den üppigen Ledersitzen. Vereinzelter Applaus plätschert durch die Reihen der Zuschauer. Nicht unangebracht, denn die Frau ist einen zweiten, wenn nicht dritten Blick wert. Weißblondes Haar, das unter Zuhilfenahme einiger Accessoires zu einer imposanten Hochfrisur modelliert ist, mädchenhafte Züge, schneeweißer, fast schon opak zu nennender Teint und eine giftige Figur. Als sich die junge Frau mithilfe des Fahrers aufrichtet, geht ein leichtes Raunen durch die Umstehenden. Ihre Gesamtgröße inklusive High Heels und Frisur dürfte an die zwei Meter betragen und die zwei Hilfskräfte des Empfangskomitees, die herbeigeeilt sind, um das Haarensemble und seine Trägerin vor den feuchtkalten Böen zu schützen, müssen sich, um die Aufgabe zu meistern, sichtlich in die Länge strecken. Zwischenzeitlich hat auch der Begleiter der blonden Schönen den Wagen verlassen und bringt sich unter einem weiteren herbeieilenden Schirm in Position. Auch er ist eine imposante Erscheinung, allerdings wird dieser Eindruck nicht durch eine übermäßige Körpergröße hervorgerufen – er geht seiner Begleiterin nur bis kurz über den Brustansatz –, vielmehr ist es die neonrote Gardeuniform mit üppigen Tressen, Bordüren und Epauletten, die den Mann im Licht der Bogenlampen um den Eingangsbereich herum förmlich leuchten lässt. Auf dem Kopf trägt er eine hohe Kopfbedeckung gleicher Farbe, die wie eine Mischung aus Cowboyhut und Zweispitz wirkt und die mondäne Erscheinung des Mannes noch unterstreicht. Als das Paar gemessenen Schrittes nebeneinander die steinernen Stufen zum Portal des Rathauses hinaufsteigt, sehen sie aus wie Napoleon Bonaparte und die junge Joséphine de Beauharnais auf dem Weg zum Kölner Karneval. Ein gepflegter Tusch ertönt, dann sind sie dem Blick der Menge entzogen und die Aufmerksamkeit wendet sich den nächsten Gästen zu: Einem Pärchen, das vom Outfit, nicht aber von den körperlichen Ausmaßen eine Kopie des gerade verschwundenen sein könnte. Weitere Wagenladungen in prunkvollen Kostümen folgen, werden begutachtet, unaufgeregt beklatscht und schließlich vom Rathaus verschluckt.
Kurz vor dem Ende des Spektakels schiebt sich eine alte Frau in einem fadenscheinigen grauen Mantel mühsam durch die sich bereits lichtende Menge. Eine Sekunde lang wendet sie ihr zerfurchtes Gesicht in Richtung der blauweißen Strahler, die den Giebel des altehrwürdigen Gemäuers säumen, dann macht sie sich vorsichtig auf ihre Krücke gestützt an die Besteigung der Rathaustreppe. Ihr rasselnder Atem geht in der allgemeinen Geräuschkulisse unter.
Einige späte Gäste haben gerade ihren Wagen verlassen, als sich neben dem Rathausportal ein Handgemenge entwickelt. Drei Beamte der örtlichen Sicherheitskräfte bilden ein wirres Knäuel auf dem obersten Treppenabsatz, in dessen Mitte die alte Frau, von zweien von ihnen an den Oberarmen fixiert, kniet, während der Dritte die Mündung eines handlichen automatischen Gewehrs auf ihren Kopf gerichtet hat. Er ruft etwas über seine Schulter, erhält Antwort und entsichert deutlich hörbar die Waffe. Dann greift er mit der
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