Ein Kater in geheimer Mission - Winston: [1]
überraschend, sondern sehr überraschend. Werner legt die Kette zurück, die unsere Haustür von innen versperrt. Dann öffnet er die Tür einen Spalt. Davor steht Anna. Und ein sehr dünnes, traurig dreinblickendes Mädchen.
Erstens kommt es anders.
Und zweitens als man denkt.
Anna hat ganz geschwollene Augen und sieht irgendwie anders aus als noch vor ein paar Stunden. Das Mädchen scheint zu frieren, jedenfalls zittert es ein bisschen. Oder hat es vielleicht Angst? Und falls ja: warum? An Werner und mir kann es nicht liegen. Werner sieht in seinem gestreiften Bademantel bestimmt nicht besonders gefährlich aus – und ich bin hier ja nur die Katze. Schließlich haben nicht mal die ungezogenen Rotzgören von Werners Bruder Angst vor mir. Und die sind eindeutig jünger als das Mädchen.
»Hallo. Ich wollte nicht einfach so reinkommen, deswegen habe ich geklingelt.« Annas Stimme hört sich unsicher an. Das Mädchen neben ihr schweigt. Ob das Kira ist? Bestimmt. Zumindest sieht sie Anna ähnlich. Die gleichen hellen Haare, die gleichen großen Augen.
Auch Werner hat bisher noch kein Wort gesagt. Wahrscheinlich hat es ihm die Sprache verschlagen. Jetzt räuspert er sich.
»Hallo, Anna! Das ist ja eine Überraschung! Ist etwas passiert?«
Anna nickt.
»Ich … äh …« Sie spricht ganz leise. »Ja, es ist etwas passiert. Ich habe großen Ärger mit meinem Freund und ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Zu Hause konnten Kira und ich nicht bleiben. Es …«, sie zögert, »gab ein Problem.«
»Oh.« Mehr sagt Werner erst mal nicht, aber er öffnet die Tür ganz. Anna und das Mädchen kommen in die Wohnung. Jetzt erst sehe ich, dass Anna eine ziemlich große Tasche dabeihat.
»Sie können mit Ihrer Tochter im Gästezimmer schlafen. Wir reden weiter, wenn wir alle so richtig wach sind«, schlägt Werner dann vor.
Anna nickt, Kira sagt noch immer kein Wort. Die beiden gehen den Flur entlang Richtung Gästezimmer. Kurz bevor sie hinter der Zimmertür verschwinden, dreht sich Anna noch einmal um.
»Danke, Herr Professor!«
»Äh, keine Ursache. Schlafen Sie gut. Das versuche ich jetzt auch.«
Mit diesen Worten macht sich Werner ebenfalls wieder in Richtung seines Bettes auf. Ich trolle mich in mein Körbchen. Was für eine aufregende Nacht! Ich glaube nicht, dass ich nun einfach weiterschlafen kann.
Kann ich auch nicht. Unruhig wälze ich mich hin und her und versuche, an etwas Schönes zu denken. Zum Beispiel an eine große Sardinenlasagne. Zwecklos. Ich bin zwar müde, doch mir geht einfach zu viel durch den Kopf. Welche Probleme kann Anna haben, dass sie mitten in der Nacht ihre Tochter einpackt und bei uns auf der Matte steht? Das muss ja etwas ganz Wildes gewesen sein. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass es in der Hochallee 106a von nun an ein wenig aufregender zugehen wird als bisher.
Werner ist ja eher ein ruhiger Vertreter der Menschenart. Tagsüber ist er meist an der Universität und forscht – und zwar an Teilchen, die so klein sind, dass man sie mit bloßem Auge nicht sehen kann. Atome nennt man die. Auch Werner kann sie nicht sehen, aber er weiß trotzdem, dass sie da sind. Genau wie seine Schwester. Die ist Pastorin und glaubt auch an irgendwas Unsichtbares. Alle komisch, diese Menschen. Ich glaube nur an Geflügelherz mit Petersilie. Und beides KANN ich sehen!
Nein, es hilft nichts. Ich kann einfach nicht einschlafen. Außerdem bekomme ich langsam Hunger vom vielen Wachherumliegen. Ich beschließe, einen Blick in meinen Fressnapf zu werfen. Vielleicht ist ja ein Wunder geschehen und es hat sich noch etwas Leckeres hineinverirrt.
Auf der Höhe der Küche angelangt, höre ich ein seltsames Geräusch. Es kommt aus dem Gästezimmer. Ich schleiche hinüber. Je näher ich tapse, desto klarer wird mir, dass das Geräusch ein Schluchzen ist. Jemand weint. Vielleicht Anna? Ich drücke meine Schnauze gegen die Tür. Sie ist nicht fest verschlossen und ich kann sie öffnen. Leise husche ich in das Zimmer.
Eine Gestalt sitzt aufrecht auf der einen Seite des Doppelbetts. Hier im Dunkeln dauert es einen kurzen Moment, bis ich sie genauer erkenne: Es ist nicht Anna, sondern Kira. Und sie weint tatsächlich. Okay, sie ist zwar ein Kind, das mich mit Sicherheit irgendwann nerven wird, aber dass sie weint, tut mir trotzdem leid. Ich schleiche zu ihr, hüpfe auf ihre Seite des Betts und beginne, ihre Hände abzuschlecken. Normalerweise ist das Hüpfen von Katern in Menschenbetten in dieser
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