Ein Kreuz in Sibirien
das Lager einen Notvorrat.«
»Was haben Sie da?«
»Lebensmittel aller Art. In vielen Wochen brav zusammengeklaut.«
» Abukow ! Darauf steht die Todesstrafe, wissen Sie das? Diebstahl von Volkseigenturn!«
»Sie sprechen es aus, Jassenski .« Abukow setzte sich auf einen Stuhl. In Jassenskis Hand war er jetzt, ein Zurück gab es nicht mehr. »Bei Ihnen muß ich die Ware verstecken. Im Lager geht es nicht.«
»Zum Mitschuldigen machen Sie mich.«
»Zum Retter.« Abukow hob beide Hände: »Greifen Sie zum Telefon, verraten Sie mich. Ich bleibe hier sitzen und laufe Ihnen nicht weg. Wohin könnte ich auch laufen? Wie Morosow gehandelt hätte, das weiß ich.«
Jassenski schwieg, trat ans Fenster und blickte hinaus. Seine Schultern zog er nach vorn, und es war ein schrecklicher Kampf, den er in seinem Inneren ausfocht.
»Wie stellen Sie sich das alles vor?« fragte er endlich.
»In mehreren Stücken hole ich die Lebensmittel bei Ihnen ab, so wie ich sie brauche. Alles auf einmal zu verteilen wäre sinnlos. Haushalten müssen wir mit dem, was ich habe, bis aus Surgut die Versorgung wieder läuft … Bald kann das sein, oder erst in Wochen.«
»Einen unbrauchbaren, alten Wohnwagen aus der Zeit der ersten Vorarbeiten kann ich Ihnen geben«, sagte Jassenski zögernd. »Abseits steht er, bei der Müllhalde, und verrottet dort. Das wäre hier das einzige sichere Versteck.«
»Sie sind ein Freund, ich wußte es, Jassenski «, sagte Abukow bewegt. »Nichts Besseres gibt's als diesen Wohnwagen.«
»Sie werden ihn heimlich benutzen, Victor Juwanowitsch . Keine Ahnung habe ich davon.« Jassenski drehte sich herum. Sein Gesicht war sehr kantig geworden bei dieser Entscheidung. »Mir ist völlig unbekannt, was Sie tun.«
»So ist es.« Abukow erhob sich und knöpfte seinen Pelz wieder zu. »Wenn das Eis bricht, werde ich Ihnen sagen, wie viele Menschen Sie damit gerettet haben.«
»Sie haben sie gerettet, Abukow .«
»So ist es nicht.« Abukow schüttelte den Kopf. »Ein Mann allein ist in Sibirien wie ein einsamer Wolf.«
Jassenski stand noch am Fenster, als Abukow mit seinem Kühlwagen abfuhr zur weitab liegenden Müllhalde.
Im Lager geschah genau das, was Smerdow vorausgesagt hatte: Als Abukow mit seinem Kühlwagen auf den großen Platz fuhr, stieß Gribow ein urweltliches Geheul aus, stürzte aus dem Magazin und lief dem Ankömmling mit ausgebreiteten Armen entgegen. Von der anderen Seite rannte Mirmuchsin heran. Und am Eingang der Küche erschien Nina Pawlowna, schlug die Schürze, der Kälte wegen, um ihren Kopf, und setzte sich ebenfalls in Bewegung. Als erster erreichte Gribow den Wagen, riß die Tür der Fahrerkabine auf und brüllte: »Laß dich ans Herz drücken, Victor Juwanowitsch! Wie ein Engel schwebst du herab. Was hast du mitgebracht?«
»Nichts!« antwortete Abukow und kletterte aus der Kabine. »Nur mich allein.«
»Welch ein Witzchen!« lachte Gribow . Nun waren auch Mustai und Nina Pawlowna am Wagen und griffen nach Abukow , um ihn an sich zu ziehen. »Kommt her, um sich fressen zu lassen. Ninoschka , gib unserem Victor eine gute, fette Suppe!« Ausschütten vor Lachen wollte er sich, sein riesiger Bauch wackelte gefährlich über der Hose, aber schlagartig wurde er ernst und geradezu fahl im Gesicht, als Abukow zu Mustai sagte:
»Es ist wirklich so: Mit leerem Wagen komme ich. Geräumt sind die Depots in Surgut, und nichts kommt mehr herein. Da will ich bei euch sein, habe ich gedacht, und euren Hunger teilen. Echte Freunde gehören auch in der Not zusammen.«
Dabei sah er Mustai mit einem langen Blick an, und Mirmuchsin verstand ihn und senkte den Kopf. Bei Gribow dauerte es etwas länger. Erst als Abukow die Ladetüren öffnete und ihn in das leere Innere blicken ließ, fiel er in sich zusammen und suchte eine Stütze an der Wagenwand, als schwanke der Boden unter ihm. »Wirklich nichts«, stammelte er. »Kommt daher mit einem leeren Wagen … Wie soll ich diesen Anblick überleben?«
Später berichtete Mustai über die Situation im Lager. »Das Hospital ist voll«, erzählte er Abukow . »Auf allen Fluren liegen sie herum. In den Baracken dämmern die Kranken dahin. Die Brigaden sind um ein Drittel ihrer Sollstärke geschrumpft. An der Trasse fallen die Menschen um wie welke Gräser. Nicht allein an Gribow liegt es; für zehn Tage Vorrat hat er immer im Magazin – nun aber fängt er an zu strecken, weil keiner weiß, wann es Nachschub gibt. Zwei Wochen reichen noch die Kartoffeln, wenn
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