Ein Kreuz in Sibirien
man sie abzählt. Der gesäuerte Kohl wird in Schaufeln eingeteilt. Die Grütze schwimmt jetzt im Wasser, und man kann die Körner zählen wie früher die Fleischbröckchen. Das einzige, was wir reichlich haben, ist mein Glühwein, doch er macht leider keinen satt. Auch die Wachmannschaften spüren es, ihre Suppen werden dünner. Die Frikadellen haben mehr Mehl als Fleisch. Nur bei den Offizieren klappt's noch, da duftet es nach Braten.«
Vor dem Eingang zum Hospital blieb Mustai stehen und faßte Abukow am Ärmel des Pelzes: »Warum bist du gekommen?«
»Bei Jassenski ist ein ganzer Wagen voll eingelagert … für die größte Not …«
»Oh, Allah! Nur flüstern darfst du das.«
» Smerdow ruft mich sofort zurück, wenn ein neuer Transport kommt. Jetzt reicht die offizielle Zuteilung nur für die Baudörfer. Von der städtischen Versorgung ist nichts abzuzweigen, keine Krume. Jede Verwaltung arbeitet nur für sich.« Abukow blickte hinüber zum Lager. Über den Baracken hing weiß der Rauch aus den Kaminen in der eisigen Luft. Wenigstens Wärme haben sie, dachte Abukow erschüttert. Die Bäume sind die einzigen gnädigen Helfer in der Not. »Wie viele Tote …?«
»In der letzten Woche sieben … aber der Winter ist noch lang.«
Vor dem Hospital wartete Professor Polewoi . Sein Kopf war nun völlig eingeschrumpft und wirkte kleiner als der weiße Busch seiner Haare. Stumm umarmte er Abukow : »Wir wußten, daß du kommst. Er läßt uns nicht allein, sagten wir alle. Auch seine Hände sind leer – aber wo nichts mehr ist, wird Gottes Wort der letzte Trost. Ist das nicht merkwürdig, Victor Juwanowitsch : Zugrunde geht man und wird dennoch ruhig durch ein Gebet. Man kann sein Elend wegglauben. – Wir haben auf dich gewartet.«
Im Hospital sah es grauenvoll aus. Auf den Gängen lagen die Jammergestalten, apathisch oder wimmernd, Gerippe mit gegerbter Haut, Erfrorene mit verbundenen Gliedmaßen, Amputierte und krampfartig Hustende.
Abukow stieg über die Liegenden hinweg, ging zu Larissas Wohnung und trat ein. Sie war nicht da, aber auch sie hatte ihn erwartet: Auf der Kommode stand ein Foto von ihm, umkränzt mit Tannengrün, geschmückt mit kleinen Tannenzapfen. Ein Zettel lag davor, schon vor Tagen geschrieben: ›Bin mit Dshuban im Lager und versorge die Kranken.‹
Es klopfte an der Tür.
Abukow riß sie auf und blickte in Polewois zerfurchtes Gesicht. » Lubnowitz stirbt!« Der alte ehemalige Professor schluckte mehrmals. »Als ob er damit gewartet hätte, bis du kommst. Wie tapfer war Aaron Petrowitsch .«
»Bring mich zu ihm!« sagte Abukow , und als Polewoi zu weinen begann, legte er den Arm um ihn und zog ihn an sich: »Erlöst wird er werden … kann das nicht ein Trost sein …?«
Nach der ersten Woche im Januar ging Abukow zu Wolozkow. Von Smerdow aus Surgut war keine Nachricht gekommen. Der Nachschub versagte, die Verwaltung in Tjumen schwieg, aus Swerdlowsk war nur zu hören, daß man auf Lieferungen warte. Was in den Schüsseln der Häftlinge schwabbte, war fast nur noch heißes Wasser. Das faulig riechende Brot wurde grammweise eingeteilt.
Wolozkow zeigte auf einen Stuhl, als Abukow eintrat, aber Abukow blieb stehen und sah ihn lange wortlos an. Schließlich senkte Wolozkow den Kopf und wischte sich über die Augen.
»Die Verantwortung tragen andere«, sagte er heiser. »Ihre Blicke töten einen Falschen, Victor Juwanowitsch .«
»Ich weiß es.« Abukow holte tief Atem. »Nur eine Frage, Ilja Stepanowitsch : Sind Sie ein Freund?«
»Wie soll ich es beweisen, wenn mein Wort nicht gilt?«
»Ich kann jedem der 1.200 Hungernden 20 Gramm Fleisch geben«, sagte Abukow stockend, »zehn Gramm Butter und 50 Gramm Grieß … Wenn man daraus eine Suppe macht, sind es drei Tage Überleben …«
Wolozkow stand auf und kam um den Tisch herum. An der Wand hing noch immer das Foto von Lenin, das Jachjajew einst mitgebracht hatte.
»Warum kommen Sie damit zu mir?«
»Ohne Rassim und ohne Sie ist es nicht möglich, etwas zu verteilen, Ilja Stepanowitsch . Es ist illegal …«
Wolozkow hob die Schultern und nickte dann. »Kommen Sie mit«, sagte er fest. »Wir gehen gemeinsam zu Rassim . Mag er die ganze Menschheit hassen – dieser Winter weicht auch ihn auf.«
Ein Zimmer weiter saß Rassim mit offener Uniformjacke und las in der sowjetischen Militärzeitung. Er blickte kurz auf, warf die Zeitung auf die Dielen und streckte wie immer, wenn er in Kampfbereitschaft ging, die Beine weit von
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