Ein Kuss vor Mitternacht
Bekanntmachung verließ, hätte Dominic keinen Grund, an der Charade seiner vermeintlichen Verlobung festzuhalten. So bestand möglicherweise wieder Hoffnung, dass es Lady Rutherford gemeinsam mit Lord Selbrooke zu guter Letzt doch noch gelingen könnte, den jungen Lord mit Muriel zu verheiraten. Constance sah freilich keine Veranlassung, die hoffende Brautmutter in spe darüber aufzuklären, dass es niemals geschehen würde, dass Dominic ihre Tochter heiratete.
„Nun …“, fuhr Lady Rutherford nach einigem Überlegen fort. „Sie wollen sich also heimlich aus dem Haus schleichen? Niemand soll wissen, dass Sie abreisen?“
„Ganz richtig.“ Constance drängte die Tränen zurück, die ihr in den Augen brannten. Der Gedanke, Dominic ohne Abschied, ohne ein Wort der Erklärung verlassen zu müssen, schmerzte sie über alle Maßen. Sie durfte auch Francesca nicht ins Vertrauen ziehen, da sie befürchten musste, sie würde sich umgehend an ihren Bruder wenden.
„Gut, einverstanden“, sagte Lady Rutherford beinahe freundlich. „Wir brechen noch vor dem Frühstück auf.“
Constance nickte und zog sich zurück, eilte in ihr Zimmer und begann zu packen. Ihr Herz lag ihr wie ein Bleiklumpen in der Brust.
Sie versuchte, sich auf die nächsten Schritte ihres Vorhabens zu konzentrieren. In London würde sie sich in das Haus ihrer Verwandten begeben, wo sie allerdings nicht lange bleiben konnte. Tante Blanche und Onkel Roger würden ihr nie verzeihen, einen Skandal heraufbeschworen und ihren sehnlichsten Wunsch nach einer familiären Beziehung zu einem Earl nicht erfüllt zu haben. Sobald Constance einen Teil ihrer Wertpapiere veräußert hatte, wollte sie nach Bath reisen, wo eine andere Tante wohnte, die sie mit ihrem Vater im Verlauf seiner Krankheit gelegentlich besucht hatte.
Constance hoffte, Tante Deborah würde sie wenigstens vorübergehend bei sich aufnehmen. Die Hinterlassenschaft ihres verstorbenen Gemahls war bescheiden, reichte gerade für eine kleine Mietwohnung am Stadtrand und ihren Lebensunterhalt, aber wenigstens würde Constance bei ihr unterkommen können, um Pläne für ihr weiteres Leben zu schmieden.
Sie musste Geld verdienen, denn ihre Ersparnisse würden nicht ausreichen, um davon auf Dauer leben zu können. Sie würde sich eine Stelle als Gouvernante und Gesellschafterin suchen – wahrlich keine rosigen Zukunftsaussichten. Doch selbst diese Aussicht bliebe ihr verwehrt, wenn ihr Name durch einen Skandal beschmutzt wäre. Wenn sie und ihre Tante ihre finanziellen Mittel zusammenlegten, könnten sie vielleicht eine größere Wohnung mieten und mit kleinen Nebeneinkünften wie Lohnnäherei und anderen Handarbeiten ein bescheidenes Auskommen haben.
Koffer und Reisetasche waren rasch gepackt, Constance schaute sich schweren Herzens im Zimmer um und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
Sie würde Dominic nie wiedersehen – nie wieder sein Lächeln sehen, seine melodische Stimme hören, nie wieder seinen Blick auf sich spüren. Es schien ihr alles so ungerecht, so unsinnig, so unbegreiflich zu sein. Würde er sie für ihre Abreise hassen? Oder würde er erleichtert aufatmen?
Sie hätte ihm gerne eine schriftliche Erklärung hinterlassen, konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er sie für undankbar und gefühllos hielt.
Andererseits hatte sie keine andere Möglichkeit, als sich heimlich aus dem Haus zu schleichen, um zu verhindern, dass Dominic vorzeitig davon erfuhr und versuchte, sie aufzuhalten.
Wenn sie vor Morgengrauen abreiste, könnte sie London bereits erreicht haben, bevor Dominic überhaupt Kenntnis von ihrem Entschluss erhielt. Dem Personal im Haus ihres Onkels wollte sie strikte Anweisung erteilen, Lord Leighton nicht einzulassen, und zwei Tage später wäre sie bereits auf dem Weg zu ihrer Tante nach Bath, wo sich ihre Spur verlieren würde.
Später, wenn ihr Leben wieder in geordneten Bahnen verlief, könnte sie ihm immer noch einen Brief schreiben. Und dann überlegte sie wieder, ob sie einem Stubenmädchen eine kurze Notiz für ihn zustecken sollte, mit der ausdrücklichen Anweisung, ihm den Zettel erst mittags auszuhändigen. Aber selbst das war gefährlich. Falls Lord Leighton die Dienerschaft befragte, würde das Stubenmädchen sich vor den Konsequenzen fürchten, wenn sie verschwieg, was sie wusste. Constance konnte es drehen und wenden, wie sie wollte, sie durfte ihm erst nach ihrer Ankunft in London ein Lebenszeichen übermitteln, um ihr Vorhaben nicht zu
Weitere Kostenlose Bücher