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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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spielte keine entscheidende Rolle. Sozialer Aufstieg war in China immer möglich. Wohl aber spielten in Chinas Gesellschaft der Rang als Mandarin und der Respekt vor den Hierarchien von Mandarinen die entscheidende Rolle.
    Mit dem Ende der Ming-Dynastie begann in der Mitte des 17. Jahrhunderts der allmähliche Niedergang der bisherigen kulturellen Hochphase. Entscheidend war der zunächst noch langsame außenpolitische Machtverfall. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zwangen die europäischen Mächte China zur Öffnung seiner Hafenstädte. Sie errichteten eine Reihe von Quasi-Kolonien, in den Hafenstädten »Konzessionen« genannt. Am Ende des ersten Japanisch-Chinesischen Krieges 1894/95 verlor China die Insel Taiwan (damals noch portugiesisch Formosa genannt), es verlor auch seine Vorherrschaft über die Koreanische Halbinsel.
    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dankte der letzte Kaiser von China ab, die Japaner drangen nach Korea und später, in den dreißiger Jahren, in die chinesische Mandschurei vor. Sie eroberten auch Shanghai und Nanjing; gleichzeitig herrschte Bürgerkrieg zwischen den Truppen der Nationalpartei Kuomintang und der Roten Armee der Kommunisten. Der Bürgerkrieg endete mit der Ausrufung der Volksrepublik China im Oktober 1949 durch Mao Zedong.
    *
    Diese Grundlinien der chinesischen Geschichte waren mir bewusst, als ich mich am 31. Oktober 1975 auf den Weg zu Mao machte. Ich habe den Verlauf des Gesprächs mit ihm in meinem Buch »Menschen und Mächte« ausführlich geschildert und will hier nichts wiederholen. Betonen muss ich jedoch, dass mir bei jenem ersten Besuch die innere Situation und das ökonomische Potential des chinesischen Volkes nicht wirklich klar geworden sind. Mao und die sogenannte Viererbande beherrschten die öffentliche Meinung, sie beherrschten insbesondere die Medien und die Kommunistische Partei. Die Monotonie, mit der Maos Denken auf allen Ebenen nachgebetet wurde, war erdrückend. Sie provozierte geradezu die Frage, die ich mir stellte: Was denken die Menschen wirklich?
    Diese Frage wurde dann wenigstens teilweise beantwortet durch den durchschlagenden Erfolg der evolutionären Entwicklungen, die Deng Xiaoping von 1978 an ins Werk setzte. Als ich sechs Jahre später ein zweites Mal nach China kam, erschien mir der von Deng eingeschlagene Weg der Reformen bereits als nicht mehr umkehrbar.
    Schon damals, Mitte der achtziger Jahre, nannte ich Deng den »großen Motor, der China antreibt zu Realismus und Pragmatismus«. Auch wenn durchaus Zweifel an der Kontinuität des Reformprozesses angebracht waren, so gab es für mich doch keinerlei Zweifel an dem Reformwillen des Mannes an der Spitze, der sich mit Zhao Ziyang zudem einen sehr tüchtigen Pragmatiker zur Durchführung der Vorhaben geholt hatte.
    Deng hat sich wenig um den ideologischen Überbau gekümmert. Er war ein begnadeter Pragmatiker mit einem untrüglichen Gespür für das Machbare und dem unbedingten Willen, das Machbare auch tatsächlich durchzusetzen. Die unmöglichen Herausforderungen überlassen wir anderen, lautete seine Linie; was möglich ist, packen wir sofort an. Sein Satz »Die Wahrheit ist in den Tatsachen zu suchen« stand als eine Art Leitmotiv über seinen Reformen. Wahrscheinlich hielt er an der Idee des Kommunismus vor allem deshalb fest, weil er mit seiner Hilfe soziale Gerechtigkeit herstellen wollte.
    Ein Geniestreich war die Errichtung von Sonderwirtschaftszonen. Damit konnte er Schwerpunkte setzen an Orten, an denen die Reformen am ehesten auf fruchtbaren Boden fielen. Deng hat diese Zonen in Hafenstädten errichten lassen, weil dort der Anschluss an die Weltwirtschaft leichter zu bewerkstelligen war. Außerdem wohnten dort Familien, in denen die Handelstradition noch nicht ganz verschüttet war, Familien, die über Generationen Seehandel betrieben und auf Taiwan, in Hongkong oder in Singapur Verwandte und Bekannte hatten. Die Sonderwirtschaftszonen waren so klein und überschaubar, dass das Experiment jederzeit hätte abgebrochen werden können. Heute ist China fast zur Gänze eine einzige Sonderwirtschaftszone geworden.
    Deng kümmerte sich im Wesentlichen um die Rahmenbedingungen. Er integrierte die verschiedenen Tendenzen innerhalb der Parteiführung und gab die großen Linien vor, die tatsächliche Umsetzung überließ er anderen, allen voran Zhao Ziyang. Der größte Unterschied zwischen Deng und Zhao bestand darin, dass Zhao wirtschaftliche und gleichzeitig einige politische Reformen

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