Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
wirtschaftlichen Weltmacht hat uns nicht geschadet. Auch der Wiederaufstieg Japans nach dem Zweiten Weltkrieg hat uns nicht geschadet, genauso wenig wie der Aufstieg Südkoreas, Taiwans, Hongkongs oder Singapurs.
Dass ein ökonomisch bisher unwichtiges Land plötzlich zum erfolgreichen Wettbewerber wird, haben wir also schon öfters erlebt. Der Westen kann den weiteren ökonomischen und technologischen Aufstieg Chinas nicht verhindern, schon gar nicht, indem er sich der politischen Zusammenarbeit verweigert oder politischen Druck auszuüben versucht.
Als Europäer möchte ich auf die Errungenschaften der europäischen und nordamerikanischen Aufklärung nicht verzichten. Aber ich sehe, dass andere Nationen ohne diese Tradition nicht nur lebensfähig sind, sondern auch glänzende ökonomische Fortschritte erzielen, welche gegenwärtig unsere ökonomischen Fortschritte übertreffen. Daraus ergibt sich für mich als Konsequenz, dass die Europäer wieder verstärkt forschen und lernen müssen. Vieles von dem, was Europäer heute an technologischen Spitzenleistungen hervorbringen, werden die Chinesen bald ebenso herstellen können – und darüber hinaus billiger.
Dieser Wettbewerb sollte uns nicht dazu verführen, den Chinesen Vorschriften machen zu wollen. Westliche Politiker sollten Abstand davon nehmen, nach Peking zu reisen, um der dortigen Führung Belehrungen in Menschenrechtsfragen zu erteilen. Angst vor China zu verbreiten ist ebenso wenig ein geeignetes Mittel, auf die Herausforderung zu reagieren. Wie auch immer wir uns verhalten, eines müssen wir wissen: China wird beim Wiederaufstieg zur Weltmacht seinen eigenen Weg gehen.
Hamburg, im März 2013
HELMUT SCHMIDT
und LEE KUAN YEW
Gespräch im Mai 2012
in Singapur
Helmut Schmidt und Lee Kuan Yew im Mai 2012 während der Aufnahmen für das vorliegende Buch. In der Mitte Matthias Naß von der ZEIT, der das Gespräch moderierte.
© Picture Press/Louis Kwok
Erste Gesprächsrunde
SCHMIDT Wie alt sind Sie heute, Harry?
LEE 89.
SCHMIDT Ich gehe auf die 94 zu.
LEE Gratuliere! 89 ist vergleichsweise sehr jugendlich.
SCHMIDT Wie alt werden Sie werden?
LEE (lacht) Ich habe keine Ahnung.
SCHMIDT Ich habe das Gefühl, ich werde mit 95 abtreten.
( LEE lacht.)
SCHMIDT Meine Frau hat mich im Alter von 91 Jahren verlassen.
LEE Loki starb mit 91?
SCHMIDT Ja. Es war ein großer Verlust für mich. Sie müssen in einer ähnlichen Lage sein.
LEE Ja. Der Tod hinterlässt eine große Lücke in unserem Leben. Sie kann nie wieder gefüllt werden.
SCHMIDT Ja.
LEE In meinem Fall nach 64 Jahren.
SCHMIDT Nach 64 Jahren Ehe?
LEE Ja.
SCHMIDT Bei uns waren es 68. Nur etwas mehr als bei Ihnen.
LEE Je länger es dauert, desto größer der Schmerz.
SCHMIDT Haben Sie hier im Shangri-La Hotel ein Büro?
LEE Nein, mein Büro befindet sich im Istana.
SCHMIDT Ich erinnere mich an den Namen Istana. Der Premierminister hat dort seine Büros.
LEE Sie haben ein gutes Gedächtnis.
SCHMIDT Wie viele Stunden arbeiten Sie normalerweise in der Woche?
LEE In der Woche, würde ich sagen … Im Durchschnitt arbeite ich fünf bis sechs Stunden am Tag.
SCHMIDT Am Tag. Mal sieben macht 35 Stunden.
LEE Aber der Sonntag ist frei.
SCHMIDT Ich arbeite immer noch beinahe 50 Stunden in der Woche.
LEE Wirklich! Das ist gut.
SCHMIDT Seit Lokis Tod habe ich nichts außer der Arbeit.
LEE Nun, ich lese, ich gehe spazieren. Bei mir zu Hause hängen übrigens noch zwei von Lokis bemalten Tellern. Sie malte diese Blätter und Blumen …
SCHMIDT Für mich ist diese Reise eine Sentimental Journey, Harry. Das erste Mal war ich 1958 oder ’59 in Singapur. Sie waren damals noch nicht an der Regierung.
LEE Ich kam 1959 ins Amt.
SCHMIDT Dann war mein Besuch wahrscheinlich 1958. Ja, auf dem Weg nach Japan und Südkorea. Man hatte mir gesagt, ich solle zwei Tage Singapur einplanen. Die einzige Unterkunft damals war das Raffles Hotel. Die britischen Kolonialbeamten tranken dort ihren Whiskey, während sie so taten, als würden sie Tee trinken. Steht es noch?
LEE Ja. Innen ist es neu gestaltet, aber die Fassade ist erhalten geblieben.
SCHMIDT Sieht es noch aus wie zu Kolonialzeiten?
LEE Ja. Man wollte, dass es auch weiterhin so aussieht, für die Leute, die von ihm gehört haben. Somerset Maugham, ein britischer Schriftsteller, hat über das Hotel geschrieben. Wenn mich britische Minister besuchen und ich es versäume, einen Besuch im Raffles Hotel aufs Programm zu setzen, dann bitten sie mich,
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