Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
Im Mai des Jahres 2012 bin ich – inzwischen 93 Jahre alt – ein letztes Mal nach Ostasien gereist. Das Motiv war, zwei alte Freunde noch einmal zu treffen, nämlich Lee Kuan Yew in Singapur und Zhu Rongji in Peking. Der eine hat als Ministerpräsident dreißig Jahre lang die Geschicke Singapurs bestimmt, der andere war als Ministerpräsident der Volksrepublik China Vorgänger von Wen Jiabao.
Ich habe Lee Kuan Yew im Laufe der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bei einem Besuch in Singapur kennengelernt. Daraus hat sich im Laufe der späten achtziger und neunziger Jahre durch Vermittlung des früheren amerikanischen Außenministers George Shultz eine Freundschaft entfaltet, die bis heute anhält. In meinem 1996 erschienenen Buch »Weggefährten« habe ich Lee Kuan Yew ein ausführliches Porträt gewidmet, in dem ich meine Bewunderung für seine Lebensleistung zum Ausdruck brachte.
Bei der Vorbereitung meiner Reise kam mir die Idee, die Gespräche mit Harry Lee aufzeichnen zu lassen und, falls sich die Mitschriften als substantiell erwiesen, anschließend ein kleines Buch zu veröffentlichen. Mein Freund war mit diesem Vorschlag einverstanden. Wir hatten uns in den vergangenen Jahren wiederholt über eine Reihe gemeinsamer, uns beide interessierender Themen unterhalten und dabei immer wieder festgestellt, dass wir trotz unterschiedlicher Perspektiven – Harry aus der Sicht eines vom Konfuzianismus geprägten Asiaten, ich aus europäischer Sicht – in vielen Punkten übereinstimmen und die Welt auf ähnliche Weise sehen.
Die Gespräche, die wir am 5., 6. und 7. Mai 2012 im Shangri-La Hotel in Singapur führten, wurden moderiert von meinem Freund Matthias Naß, der Lee seit fast zwanzig Jahren kennt und auch einige Interviews mit ihm geführt hat. Er sorgte dafür – wie ich in der anschließenden Pressekonferenz etwas flapsig bemerkte –, dass alle Fragen angeschnitten und keine gelöst wurde. In Wirklichkeit war der Wiederaufstieg der Weltmacht China das zentrale Thema, das uns am meisten beschäftigte und auf das wir immer wieder zurückkamen.
Dieses Buch setzt an vielen Stellen gemeinsames Wissen voraus, auch und gerade da, wo wir unterschiedlicher Meinung sind. Um dem Leser das Verständnis der Gespräche mit Lee Kuan Yew zu erleichtern, will ich in dieser Einleitung einige der Voraussetzungen benennen. Dabei greife ich auf Erfahrungen zurück, die ich mir in einem halben Jahrhundert intensiver Beschäftigung und auf mehr als einem Dutzend Reisen nach China und in den Fernen Osten erworben habe. Der im Anhang abgedruckte Text »Vier Freunde« von Matthias Naß stellt meine Freundschaft mit Harry Lee noch in einen ganz besonderen persönlichen Zusammenhang. Wenn wir uns treffen, sind nämlich zwei amerikanische Freunde im Geist mit dabei: George Shultz und Henry Kissinger.
Beide sollen an dieser Stelle deshalb auch kurz zu Wort kommen. Zunächst George Shultz, der in seinen 1993 erschienenen Erinnerungen »Turmoil and Triumph« schrieb, dass China mit Recht stolz sein könne auf seine jahrtausendealte Kultur. »Das chinesische Volk ist unendlich begabt. Auch unter dem Kommunismus hat es große Leistungen vollbracht. Je freier die Chinesen werden, desto großartiger werden sie ihre Fähigkeiten entfalten.« Ganz ähnlich urteilte Henry Kissinger in seinem jüngsten China-Buch: »Die zeitliche Dimension der Vergangenheit Chinas gestattet es den chinesischen Führern, den Mantel einer nahezu endlosen Geschichte zu benutzen, um ihr Gegenüber zu einer gewissen Bescheidenheit zu veranlassen.«
Schon in den sechziger Jahren habe ich geahnt, dass China wieder zu einer Weltmacht aufsteigen würde. Deshalb unternahm ich 1971 eine größere Reise nach Ostasien. Deutschland hatte damals keine diplomatischen Beziehungen mit China; deshalb musste ich als damaliger Bundesverteidigungsminister das Land von außen betrachten. Ich habe damals auf China mit japanischen, (süd)koreanischen, thailändischen und australischen Augen geschaut. Am Ende jener Reise stand für mich fest: China wird den Weg zurück zur Weltmacht finden.
Deshalb habe ich Bundeskanzler Willy Brandt gedrängt, diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik China aufzunehmen. Dies fiel ihm nicht sonderlich schwer, weil gleichzeitig die Annäherung zwischen den USA und China in Gang kam. Deutschland und die Volksrepublik China haben 1972 diplomatische Beziehungen hergestellt, sieben Jahre vor den Vereinigten Staaten von Amerika.
Zu jener Zeit
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