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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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durchführen wollte, was Deng für falsch hielt, weil es seiner Meinung nach im Chaos enden musste. Die Entwicklung in der Sowjetunion Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre, Gorbatschows gleichzeitige Einführung von Perestroika und Glasnost, hat ihm im Nachhinein recht gegeben.
    Ich habe Zhao Ziyang bei meinem Besuch 1984 kennengelernt. Er besaß einen ähnlich beeindruckenden wirtschaftlichen Sachverstand wie später Zhu Rongji, einer seiner Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten; unter den damaligen Staats- und Regierungschefs der Welt fand man kaum einen, der über ökonomische Zusammenhänge so gut Bescheid wusste. Ob es um die Reform des Preissystems oder um die Geldpolitik der Zentralbank ging, um den Zustand der Weltwirtschaft oder um die Rohstoffprobleme der Entwicklungsländer: Über jedes Thema war Zhao bestens unterrichtet, seine Urteile waren begründet und ausgewogen.
    Wie man denn die Leitungskader nach Jahrzehnten der Unselbständigkeit an größere Eigenverantwortung gewöhnen wolle, fragte ich ihn damals, und seine Antwort war verblüffend einfach. Entweder seien die Leiter der Betriebe fähig, aber die Strukturen verkrustet, dann würden die Strukturen geändert. Oder aber die Leiter der Betriebe seien nicht geeignet, dann würden eben andere Mitarbeiter in die Führungspositionen aufsteigen. Seine Aufgabe sehe er darin, die Fähigsten an die Spitze zu bringen.
    Die ökonomische, die soziale und die politische Entwicklung Chinas hat im Juni 1989 durch die Tiananmen-Tragödie vorübergehend eine tiefgreifende Unterbrechung erfahren. Als die sogenannten Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens schließlich mit militärischen Mitteln niedergeschlagen wurden, haben die Medien und die öffentliche Meinung im Westen das Ereignis mit der Unterdrückung einer generellen Freiheitsbewegung gleichgesetzt.
    Aber jugendlicher Protest ist zunächst allgemein ein Generationenkonflikt, ein Aufstand von Jungen gegen die Alten. Am Anfang waren junge Leute mit Zustimmung und Hilfe von Zhao Ziyang in Sonderzügen der Staatseisenbahn nach Peking gekommen. Zhao wollte – ähnlich wie in Russland Michail Gorbatschow – eine offenere Gesellschaft. Die Demonstrationen verliefen zunächst friedlich.
    Dann jedoch kam es zum Staatsbesuch des russischen Präsidenten, der nur durch einen Hintereingang in die »Große Halle des Volkes« gelangen konnte. Dieser große Gesichtsverlust veranlasste die Parteiführung zum Eingreifen. Sie hatte jedoch keinerlei Bereitschaftspolizei zur Verfügung, sondern nur ihr Militär. Die Zahl der toten Zivilisten und Soldaten ist ungewiss (die im Westen genannten Zahlen sind übertrieben); dem Westen erschien das Vorgehen als Ausdruck des rücksichtslosen Machtstrebens der Kommunistischen Partei. Die Tiananmen-Tragödie war ohne Zweifel dem Willen zur unbedingten Wiederherstellung der kommunistischen Staatsmacht geschuldet. Sie hat zugleich die Autorität von Deng Xiaoping unterhöhlt.
    Als ich im Mai 1990, ein Jahr nach Tiananmen, Deng zu einem dritten und letzten langen Gespräch besuchte, stimmte er mir zu, als ich sagte, China habe einen großen Prestigeverlust erlitten. Zugleich erklärte er: »Wir müssen die unsere Schlüsse daraus ziehen. Die Ursache hat in der Partei gelegen, sogar bei hohen Vertretern in der Parteiführung.« Er hat die Schuld nicht anderen in die Schuhe geschoben, sondern eingeräumt, dass er die Parteispitze nicht im Griff hatte. Er gab auch zu, dass man die junge Generation vernachlässigt habe. Allerdings warnte er davor, die Bedeutung der Ereignisse zu überschätzen, die »Politik der vier Modernisierungen« sei nicht beeinträchtigt worden (mein Gespräch mit Deng ist im Anhang dieses Buches dokumentiert).
    1992 hat Deng mit seiner legendären fünfwöchigen Propagandareise durch den Süden des Landes seine Autorität wiederherstellen können. Nunmehr hielt er wieder alle Fäden in der Hand. Heute weiß man, Deng Xiaoping war nicht nur der erfolgreichste kommunistische Führer, sondern in meinen Augen auch einer der erfolgreichsten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts überhaupt – Erfolg definiert als die Veränderung des eigenen Landes zum Guten.
    *
    Wenn man sich die innerlich und äußerlich zerrissene Situation Chinas während fast der gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor Augen führt, wenn man sich zusätzlich die Ära Mao Zedongs mit ihren zig Millionen Hungertoten und den ungezählten Opfern der so genannten

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