Ein letzter Brief von dir (German Edition)
Quinns hingegen wurde über alte Wunden gestritten, über unerklärliche Animositäten, die mit Geld zu tun hatten, über andere Frauen und gebrochene Versprechen. Die drückende Atmosphäre in den Zimmern mit den hohen Decken weckte in Orla Dankbarkeit für ihre eigene, so normale Familie, für ihren Pa, der Geschichte unterrichtete, und ihre Ma, die im Friseursalon von Tobercree Dauerwellen legte.
Der Tod schmiedet seltsame Allianzen. Zum ersten Mal in ihrem Leben
wollte
Orla mit Sims Mutter sprechen.
Sie hatten sich gegenseitig Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Die letzte kam, als Orla gerade in der Badewanne lag und ihre Fingerkuppen schon so runzlig waren wie Walnüsse. Der Klang des feinen Upperclass-Akzents, der so stark nach besserer Gesellschaft roch wie ein Hermelinumhang, hatte sie aus dem langsam vergehenden Schaum hochschießen lassen.
«Orla, hier ist Lucy. Du gehst schon wieder nicht ans Telefon. Wo bist du denn? Es gibt ein paar Dinge, die wir klären müssen. Bitte ruf mich an, wenn du einen Moment Zeit hast.»
Momente, dachte Orla und wickelte sich in ein Handtuch, um zum Telefon zu tapsen, waren alles, was sie noch hatte. Ihre Zukunft bestand aus Millionen Momenten, jeder einzelne eine vollkommene Blase aus Sehnsucht und Reue und Zorn auf das Schicksal. Sie wählte die Nummer.
«Lucy, hallo. Hier ist Orla.» Sie musste sich vorstellen, weil sie ihre Beinahe-Schwiegermutter normalerweise nicht anzurufen pflegte. «Wie geht es Ihnen?» Sie selbst hasste diese Frage inzwischen und war schon regelrecht wütend auf Ma und Juno und alle anderen geworden, die sie ihr stellten, aber dann wiederum: Wie sonst hätten sie es formulieren sollen?
«Es geht mir schon ein wenig besser», sagte Lucy vorsichtig. Sie sprach immer so, als ob sie Glas zwischen den Zähnen hätte, aber heute klang sie besonders merkwürdig. «Und dir? Es ist ein schrecklicher Schock.»
Eine gewaltige Untertreibung. «Ja. Ich kann es immer noch nicht richtig glauben. Ich hoffe immer noch, dass es sich um ein Missverständnis handelt.»
«Kein Missverständnis. Ich habe ihn gesehen.»
«Sie …» Orla bekam plötzlich keine Luft mehr.
«Ich bin sofort rübergeflogen und ins Krankenhaus gegangen.»
Orla war gar nicht auf die Idee gekommen, das zu tun. Sie hatte sich wie ein Wurm in ihre Höhle zurückgezogen. Und diese mit Perlen behängte Frau in Chanel war «sofort» in ein Flugzeug gesprungen! Orla fühlte sich selbstsüchtig und ein wenig beschämt. «Wie sah er denn aus?», fragte sie kläglich.
«Was für eine Frage!», entgegnete Lucy streng. «Die Beerdigung ist am Montag. Zehn Uhr in der St.-Mary’s-Gemeindekirche. Hinterher im Shelbourne. Willst du jemanden mitbringen?»
«Ma. Meine Mutter, meine ich. Ich weiß, dass sie sich von ihm verabschieden will.»
«Oh.» Lucy seufzte gereizt. «Sehr gut. Ich denke, wir können noch Platz für sie schaffen.»
«Ma hat Ihren Sohn sehr gemocht», sagte Orla.
Ihren Beinahe-Schwiegersohn.
«Ehrlich gesagt, hat sie ihn vergöttert.»
«Das haben wir alle getan», sagte Lucy kurz angebunden. «Noch irgendwelche Mitläufer?»
Orla schluckte die Bemerkung. Sah darüber hinweg. Zählte bis zehn. «Meine – unsere – Freundin Juno. Sie steht auf der Liste, nehme ich an?»
«Nie von ihr gehört. Schick mir ihre Adresse. Sonst noch jemand?»
«Haben Sie Patrick eingeladen? Und Emily?»
«Wer ist das?»
Die Freunde, die er von dir ferngehalten hat, damit du sie nicht wegekeln kannst. Weil ihm dein zickiges Tamtam immer so peinlich war.
«Freunde. Von der Schauspielschule. Sie sollten wirklich eingeladen werden. Oh, und sein Lehrer. Und …»
«Das ist keine Party», blaffte Lucy. «Es ist die Beerdigung eines Senatorensohns. Wir können nicht einfach jeden X-Beliebigen einladen. Das gäbe Sicherheitsprobleme. Also, du kommst auf jeden Fall?»
Die barsche Frage zeigte ihr deutlich, wo ihr Platz war. Orla spürte, wie ihr schwindlig wurde. «Natürlich komme ich.»
«Hervorragend.»
«Lucy, hören Sie … Wenn Sie jemanden zum Reden brauchen … Weil wir ihn doch beide verloren haben, oder? Ich will damit nicht sagen, dass ich weiß, wie Sie sich fühlen, aber …»
«Genau. Du kannst nicht wissen, wie es sich anfühlt, das eigene Kind zu verlieren. Also bitte keine Plattitüden. Nun. Ich räume heute seine Kellerwohnung aus. Ich werde ein Atelier daraus machen. Du weißt, wie sehr Simon meine Kunst geliebt hat.»
Niemand sonst nannte ihn Simon.
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