Ein Lied für meine Tochter
winzigen Fäusten geballt, und er hat ein kleines Grübchen am Kinn.
Unter dem Foto befinden sich ein Hand- sowie ein Fußabdruck, viel zu klein, um real zu sein.
»Mrs. Baxter«, sagt die Krankenschwester leise. »Es tut mir leid.«
»Warum flüstern Sie?«, frage ich. »Warum flüstert ihr alle ? Wo zum Teufel ist mein Baby? «
Als hätte ich ihn heraufbeschworen, kommt eine weitere Krankenschwester mit meinem Sohn auf dem Arm herein. Er ist jetzt angezogen; die Kleider sind ihm viel zu groß. Ich strecke die Arme nach ihm aus.
Einen einzigen Tag lang habe ich einmal auf einer Intensivstation für Babys gearbeitet. Ich habe Gitarre für die Frühchen gespielt und ihnen im Rahmen der Entwicklungsförderung vorgesungen. Denn bei Babys, die Musiktherapie erhalten, erhöht sich die Sauerstoffaufnahme und der Puls ist niedriger, und einige Studien belegen sogar, dass Frühchen unter dem Einfluss von Musiktherapie täglich doppelt so viel an Gewicht zulegen wie normal. Ich hatte gerade einer Mutter und ihrem Baby ein Wiegenlied auf Spanisch vorgesungen, als eine Sozialarbeiterin hereinkam und mich um meine Hilfe bat.
»Das Rodriguez-Baby ist heute Morgen gestorben«, sagte sie zu mir. »Die Familie wartet gerade auf ihre Lieblingskrankenschwester … für das letzte Bad.«
»Das letzte Bad?«
»Das hilft manchmal«, erklärte die Sozialarbeiterin. »Das Problem ist nur, die Familie ist ziemlich groß, und ich denke, sie könnten da drin ein wenig Hilfe brauchen.«
Als ich das Privatzimmer betrat, wo die Familie wartete, wusste ich, was die Sozialarbeiterin gemeint hatte. Die Mutter saß auf einem Schaukelstuhl und hielt das tote Kind in den Armen. Ihr Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Der Vater stand neben ihr. Tanten, Onkel und Großeltern waren vollkommen still im krassen Gegensatz zu den Nichten und Neffen, die kreischend um das Bett herumjagten.
»Hallo«, sagte ich. »Ich bin Zoe. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein wenig spiele?« Ich deutete auf die Gitarre, die ich mir über den Rücken gehängt hatte.
Als die Mutter mir nicht antwortete, kniete ich mich vor ihren Stuhl. »Ihre Tochter war sehr schön«, sagte ich.
Sie antwortete mir darauf ebenfalls nicht, und auch sonst niemand. Also nahm ich meine Gitarre und begann zu singen. Es war das gleiche spanische Wiegenlied, das ich auch wenige Minuten zuvor gesungen hatte:
Duérmete, mi niño
Duérmete, mi sol
Duérmete, pedazo
De mi corazón.
Einen Augenblick lang hörten die Kinder auf, im Kreis zu laufen. Die Erwachsenen im Raum starrten mich an. Plötzlich war ich im Fokus, im Zentrum aller Energie und nicht mehr das arme Kind. Kaum war die Krankenschwester da und zog das Baby für sein letztes Bad aus, schlüpfte ich aus dem Zimmer, ging zur Krankenhausverwaltung und kündigte.
Ich hatte schon Dutzende Male an den Betten von sterbenden Kindern gespielt, und ich hatte es stets als Privileg betrachtet, ihnen den Übergang von dieser in die nächste Welt mit einer schönen Melodie zu erleichtern. Doch das hier war etwas anderes gewesen. Ich konnte einfach nicht den Orpheus für ein totes Baby spielen, nicht während Max und ich so verzweifelt versuchten, schwanger zu werden.
Mein eigener Sohn fühlt sich vollkommen kalt an. Ich lege ihn auf dem Krankenhausbett zwischen meine Beine und öffne den blauen Pyjama, den ihm eine Schwester angezogen hat. Dann lege ich meine Hand auf seinen Torso, spüre aber keinen Puls.
»Duérmete, mi niño« , flüstere ich.
»Würden Sie ihn gerne eine Weile hier behalten?«, fragt die Krankenschwester, die ihn gebracht hat.
Ich schaue sie an. »Darf ich das?«
»Sie können ihn so lange behalten, wie Sie wollen«, antwortet sie. »Aber …« Sie führt den Gedanken nicht zu Ende.
»Wo ist er?«, frage ich.
»Wie bitte?«
»Ich meine, wo ist er, wenn er nicht hier ist?« Ich schaue die Krankenschwester an. »In der Leichenhalle?«
»Nein. Er ist bei uns.«
Sie lügt mich an. Ich weiß, dass sie mich anlügt. Hätte er wie die anderen Babys in einer Krankenhauswiege gelegen, dann wäre er nicht so kalt. »Ich will das sehen.«
»Ich fürchte, wir können nicht …«
»Machen Sie schon«, fordert meine Mutter in befehlsgewohntem Ton. »Wenn Sie das sehen muss, dann lassen Sie sie es sehen.«
Die beiden Krankenschwestern schauen einander an. Dann geht eine von ihnen raus und holt einen Rollstuhl. Sie helfen mir aus dem Bett und in den Stuhl. Und die ganze Zeit über halte ich mein Baby in den
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