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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Armen.
    Max fährt mich den Flur hinunter. Hinter einer Tür höre ich eine Frau, die in den Wehen stöhnt. Max schiebt mich schneller.
    »Mrs. Baxter würde gerne sehen, wo ihr Sohn war«, sagt die Krankenschwester zu einer Kollegin hinter einem Schreibtisch, als wäre das eine ganze normale Bitte. Sie führt mich am Stationszimmer vorbei zu einer Reihe von Regalen voller in Plastik eingeschweißter Schläuche, frischer Decken und Windeln. Daneben steht ein kleiner Kühlschrank aus rostfreiem Stahl, nicht viel anders als der, den ich im Studentenwohnheim gehabt habe.
    Die Krankenschwester öffnet die Kühlschranktür. Zuerst verstehe ich nicht, doch dann schaue ich hinein und sehe die kahlen weißen Wände und den einzelnen Regalboden.
    Ich drücke mein Baby an mich, aber er ist so winzig, dass ich kaum spüren kann, ob ich ihn richtig halte. Ich könnte genauso gut einen Beutel mit Federn in den Armen halten, einen Atemzug, einen Wunsch. Instinktiv stehe ich auf. Ich weiß nur, dass ich den Kühlschrank nicht länger anschauen kann … und plötzlich kann ich nicht mehr atmen, und die Welt beginnt sich zu drehen, und meine Brust fühlt sich an, als würde sie in einem Schraubstock zerquetscht. Bevor ich zu Boden stürze, kann ich nur an eines denken: Ich werde meinen Sohn nicht fallen lassen. Eine gute Mutter lässt ihr Kind nicht los.
    »Was Sie mir mitteilen wollen«, antworte ich Dr. Gelman, meiner Gynäkologin, »ist, dass ich eine tickende Zeitbombe bin.«
    Nachdem ich in Ohnmacht gefallen war, hatte man mich wieder aufgeweckt, den Ärzten die Symptome geschildert und mich auf Heparin gesetzt. Bei einer Computertomografie wurde ein Blutgerinnsel diagnostiziert, das in meine Lunge gewandert war, eine Embolie. Jetzt sagen mir meine Ärzte, die Blutuntersuchung habe ergeben, dass das immer wieder passieren könne.
    »Nicht notwendigerweise«, sagt Dr. Gelman. »Jetzt, wo wir das Problem kennen, können wir Ihnen Cumarin geben. Das kann man behandeln, Zoe.«
    Ich habe ein wenig Angst, mich zu bewegen. Ich will nicht, dass das Gerinnsel plötzlich in mein Gehirn wandert und dort ein Aneurysma verursacht. Dr. Gelman versichert mir jedoch, die Heparin-Spritzen würden das effektiv verhindern.
    Ein Teil von mir – der Teil, der sich anfühlt, als hätte ich einen Stein verschluckt – ist enttäuscht darüber.
    »Wie kommt es, dass Sie das nie untersucht haben?«, fragt Max. »Sie haben doch auch alles andere untersucht.«
    Dr. Gelman dreht sich zu ihm um. »Ein Antithrombin-III-Defizit hat nichts mit der Schwangerschaft zu tun. Damit wird man geboren, und für gewöhnlich macht sich dieses Defizit auch schon in jungen Jahren bemerkbar. Und wir können die Disposition für eine solche Gerinnselbildung oftmals erst diagnostizieren, wenn es passiert. Ein Beinbruch kann das zum Beispiel auslösen – oder, wie in Zoes Fall, Wehen und eine Entbindung.«
    »Es hat nichts mit der Schwangerschaft zu tun«, wiederhole ich und klammere mich mit aller Kraft an diesen Satz. »Also könnte ich rein technisch gesehen immer noch ein Baby bekommen, nicht wahr?«
    Die Gynäkologin zögert. »Das ist im Prinzip kein Hinderungsgrund«, antwortet sie schließlich. »Aber lassen Sie uns darüber in ein paar Wochen noch einmal reden.«
    Wir drehen uns beide um, als die Tür sich hinter Max schließt. Er hat den Raum verlassen.
    Als ich aus dem Krankenhaus entlassen werde, fährt ein Pfleger mich im Rollstuhl zu den Aufzügen, Max trägt meine Reisetasche. Dabei fällt mir etwas auf, das mir in den letzten zwei Tagen, die ich hier verbracht habe, nicht aufgefallen ist: eine einzelne Butterblume in einer kleinen Glasvase, die mit einem Saugnapf an meiner Zimmertür befestigt ist. Mein Zimmer ist das einzige mit so einer Blume, und mir wird klar, dass es sich dabei um eine Art Zeichen handelt: ein Hinweis für die Ärzte, Schwestern, Pfleger und Hilfskräfte, dass dieses Zimmer kein Reich der Glückseligen ist, dass hier im Gegensatz zu allen anderen Zimmern auf der Entbindungsstation etwas Furchtbares passiert ist.
    Während wir darauf warten, dass die Aufzugtür sich öffnet, wird eine andere Frau im Rollstuhl neben mich geschoben. Sie hält ein Neugeborenes in den Armen, und irgendjemand hat einen Glückwunschballon an ihren Stuhl gebunden. Ihr Mann folgt ihr, er hat die Arme voller Blumen. »Ist das Daddy?«, schnurrt die Frau, als das Baby sich bewegt. »Winkst du ihm?«
    Eine Glocke ertönt, und die Aufzugtür geht auf. Die

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