Ein Lied für meine Tochter
Mr. Docker und daran, was es bedeutet, plötzlich seine Umgebung wahrzunehmen. Es ist, als würde man unvermittelt aus dem schönsten Traum gerissen und spürt hundert Messer an der Kehle. »Alles«, flüstere ich. »Alles stimmt nicht.«
Max setzt sich neben mich. »Wir müssen reden.«
Ich schaue ihn nicht an. Ich setze mich noch nicht mal auf. Stattdessen starre ich einfach geradeaus. Max hat vergessen, die Kindersicherungen von den Steckdosen zu entfernen, diese kleinen Plastikkappen, die sicherstellen sollen, dass niemand zu Schaden kommt.
Doch dafür ist es jetzt zu spät. Viel zu spät.
»Jetzt nicht«, sage ich.
Man verliert Schlüssel, Geldbörsen, Brillen. Man verliert einen Job, und man verliert Gewicht.
Man verliert Geld, und man verliert den Verstand.
Man verliert die Hoffnung, den Glauben und die Orientierung.
Man verliert den Kontakt zu Freunden.
Man verliert den Kopf. Man verliert ein Tennismatch. Man verliert eine Wette.
Man verliert ein Baby, oder zumindest sagt man das so.
Nur dass ich ganz genau weiß, wo er ist.
Am nächsten Tag wache ich auf, und meine Brüste sind hart wie Marmor. Ich kann noch nicht mal atmen, ohne dass sie mir wehtun. Ich habe kein Neugeborenes, doch mein Körper weiß das nicht. Die Schwestern im Krankenhaus haben mich davor gewarnt. Früher gab es ein Medikament, um die Milchproduktion zu unterbinden, doch es hatte schwere Nebenwirkungen. Also konnten sie mich nur nach Hause schicken und mich vor dem warnen, was passieren würde.
Die Laken auf Max’ Seite der Matratze sind unberührt. Er ist letzte Nacht nicht ins Bett gekommen. Ich weiß nicht, wo er geschlafen hat. Und inzwischen ist er bestimmt zur Arbeit gefahren.
»Mom!«, rufe ich, doch niemand kommt. Ich setze mich auf, zucke unwillkürlich zusammen und sehe einen Notizzettel auf dem Nachttisch. Bin einkaufen , hat meine Mutter geschrieben.
Ich blättere die Entlassungspapiere des Krankenhauses durch. Doch niemand hat daran gedacht, einer Frau, die gerade eine Fehlgeburt erlitten hat, die Adresse eines Still-Beraters zu geben.
Obwohl ich mir dumm vorkomme, wähle ich Dr. Gelmans Nummer. Ihre Arzthelferin hebt ab, ein süßes Mädchen, das ich ein halbes Jahr lang jeden Monat gesehen habe. »Hi«, sage ich. »Zoe Baxter hier …«
»Zoe!«, ruft sie enthusiastisch. »Ich habe gehört, Sie seien Freitag ins Krankenhaus gekommen! Und? Mädchen oder Junge?«
An ihrem freudigen Tonfall höre ich, dass sie nicht die geringste Ahnung hat, was am Wochenende passiert ist. Meine Kehle ist wie ausgetrocknet. »Junge.« Mehr bringe ich nicht hervor.
Schon die Berührung des Stoffs von meinem T-Shirt beschert mir geradezu unerträgliche Schmerzen. »Kann ich wohl mal mit einer Hebamme sprechen?«
»Sicher. Ich stelle Sie durch …«, antwortet die Arzthelferin, und ich bleibe am Apparat und bete, dass wenigstens die Hebamme weiß, was passiert ist.
Ein Klicken ist in der Leitung zu hören. »Zoe«, sagt die Hebamme in sanftem Ton, »wie geht es Ihnen?«
»Meine Milch«, antworte ich und drohe, fast an den Worten zu ersticken. »Kann ich sie irgendwie austrocknen?«
»Nicht wirklich. Ich fürchte, das müssen Sie einfach durchstehen«, sagt sie. »Aber Sie können etwas Ibuprofen nehmen. Versuchen Sie es auch einmal mit kalten Kohlblättern in Ihrem BH. Wir wissen zwar nicht warum, aber offenbar haben die etwas an sich, was entzündungshemmend wirkt. Und Salbei. Wenn Sie welchen haben, kochen Sie damit. Oder machen Sie sich einen Tee davon. Salbei hemmt die Milchproduktion.«
Ich danke ihr und beende das Gespräch. Als ich das Mobilteil wieder auflegen will, fällt es gegen den Wecker und schaltet so das Radio ein. Ich habe einen klassischen Sender eingestellt, weil es mir irgendwie leichter fällt, zu Streichern aufzuwachen als zu hartem Rock.
Die Flöte. Das Wogen der Streicher. Das pumpende Grunzen der Tuba und des Horns. Wagners Walkürenritt hallt von der Decke bis zum Boden und erfüllt den Raum mit Chaos.
Dieses Stück ist auch auf einer CD in meiner Entbindungstasche, die ich noch nicht ausgepackt habe.
Dieses Stück ist während meiner Entbindung nie gespielt worden.
Mit einer schnellen Bewegung packe ich den Radiowecker und reiße ihn aus der Steckdose. Ich halte ihn über den Kopf und schleudere ihn durch den Raum, sodass er auf dem Parkettfußboden mit einer Wucht zerschellt, die Wagner stolz gemacht hätte.
Als wieder Stille einkehrt, höre ich das Rasseln meines Atems. Wie soll ich
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