Ein Mann zum Abheben
so als würde ich mich vielleicht irren. Das Laufband ist zu Ende und spuckt uns vor Gate 22 aus. Ich sehe einen Wagen, an dem man Mineralwasser
kaufen kann, doch dafür bleibt keine Zeit. Ich hänge mir meine Tasche über die rechte Schulter, er hängt seine über die linke, wir fassen uns an den Händen und laufen wieder los.
Der Flughafen ist endlos, es ist wie in einem Traum, und an irgendeinem Punkt sieht er mich an und sagt: »Es wird gut werden.«
Was? Was wird gut werden? Im Vorbeihasten sehe ich mich flüchtig in einer Spiegelwand. Meine Bluse ist voller Burritosoßeflecken, und meine Haare sind zu dieser wirklich schrägen Frisur getrocknet, und ich setze dazu an, ihm zu erzählen, dass ich normalerweise nicht so unmöglich aussehe. Das entspricht allerdings nicht ganz der Wahrheit. Ich sehe oft so unmöglich aus, aber wahrscheinlich will ich ihm einfach sagen, dass ich durchaus imstande bin, viel besser auszusehen. Ich halte Ausschau nach Anzeichen dafür, dass er so etwas hier ständig macht, denn bestimmt gehört er zu der Sorte von Männern, die so etwas ständig machen. Er ist groß und kräftig, hat Zähne, die dafür geschaffen sind, Fleisch von Knochen zu reißen, und genau in diesem Augenblick - die Uhr steht auf 17 Uhr 32 - zieht er mich zur Seite. Ohne Fragen zu stellen, gehe ich mit ihm in die Flughafenkapelle, wo er seine Tasche fallen lässt, die Hände auf meine Schultern legt und mich küsst.
Es handelt sich um einen jener Küsse, bei denen man das Gefühl hat zu fallen, als wäre einem der Aufzugboden unter den Füßen weggebrochen. Und als ich mich schließlich losreiße, sehe ich ein Wandbild mit Jesus darauf, einer Art spanischem Jesus, der ganz platt und verzerrt aussieht und seine langen, dünnen Hände ausstreckt, um eine 747 festzuhalten. Seine Augen blicken kummervoll, doch mitfühlend. Er hat hier, in der Flughafenkapelle von Dallas, offensichtlich schon alles gesehen.
»Ich brauche deine Karte«, sagt Gerry. »Deine Visitenkarte.«
»In Ordnung«, sage ich. Das Blut ist mir in die Wangen geschossen, und in meinen Ohren rauscht es. Gerry und ich schreien fast, als wären wir Kletterer hoch oben auf einem Berg und müssten uns über den Lärm des peitschenden Windes hinweg anbrüllen, um einander zu verstehen. »Aber du kannst mich nicht anrufen. Ich bin verheiratet.«
»Ich weiß«, sagt er. »Ich bin reich.«
»Du bist reich?«
»Ich verdiene eine Menge Geld, wollte ich damit sagen. Keine Ahnung, warum ich eine Menge Geld verdiene. Ich verstehe eigentlich nicht, warum sie mir so viel bezahlen, aber das könnte manches einfacher machen.« Er wirft einen Blick auf Jesus.
Was meint er damit, es könnte manches einfacher machen? Zum ersten Mal reagiere ich misstrauisch. Er ist wie ein Schauspieler, der plötzlich vom Text abweicht, und ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Bis zu diesem Augenblick war er völlig glatt gewesen, so glatt, dass ich mir eingebildet hatte, er würde einfach spurlos von mir abgleiten, sobald wir uns voneinander verabschiedet hätten. Insgeheim habe ich mir schon die Geschichte zurechtgelegt, die ich Kelly morgen am Telefon erzählen würde, und mir ausgemalt, wie sie lachen würde, weil das Ganze ein derartiges Klischee ist. Elyse trinkt zwei doppelte Wodka und lässt sich in einem Flugzeug anbaggern. (»Das ist ein vierfacher Wodka«, wird Kelly sagen. »Was genau dachtest du, würde geschehen?«) Elyse knutscht in einer Flughafenkapelle herum. (»Während so ein Tex-Mex-Jesus die ganze Zeit zuschaut.«) Elyse geht zu ihrem Flugzeug, während der Mann eine andere Richtung einschlägt, zu einem anderen Flugzeug, das ihn in eine andere Stadt und in ein anderes Leben
bringen wird. (»So etwas kommt vor«, wird sie mir sagen, während ich mit baumelnden Beinen in der Küche auf der Arbeitsplatte sitze und das Telefon an mein Ohr presse. »Es ist nicht wirklich was passiert, also kein Grund für Schuldgefühle.«) Kelly ist die Einzige, die mich schon kannte, als wir noch jung, hübsch und unbesonnen waren, als die Welt voller Männer zu sein schien und wir uns manchmal von unserem sexuellen Verlangen wegfegen, packen und in Situationen hatten bringen lassen, die im Durcheinander der Erinnerungen ein bisschen wie Szenen aus einem Film wirken. Sie ist die Einzige, die verstehen würde, warum ich erleichtert bin, einen kleinen Teil von diesem Mädchen noch in mir zu finden. Erleichtert darüber, dass ich mich, obwohl älter, argwöhnischer und
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