Himmelsdiebe
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Laura liefen die Augen über. In was für eine Welt war sie da hineingeraten?
Sie sah die Bilder an den Wänden zum ersten Mal. Und doch war es, als wären sie ihr seit Urzeiten vertraut. Eine unwirkliche, überwirkliche Traumwelt tat sich vor ihr auf, ein Spiegellabyrinth ihrer eigenen Sehnsüchte und Ängste. Dunkle Wälder, die verschlungene Pfade in das Dickicht der Lüste wiese n … Fleischfressende Blüten, die in erschreckender Schönheit auf ihre Beute lauerte n … Paradiese des Verbotenen, die bevölkert waren von Vogelwesen mit drohenden Augen und Pferdefüße n … Abgründe der Glückseligkeit, über die räuberische Nachtigallen wachte n …
»Ich glaube, wir kennen uns«, sagte jemand hinter ihr in fürchterlichem Englisch mit deutschem Akzent. »Haben wir nicht schon mal miteinander geschlafen?«
Laura fuhr herum. Aus der Menge der Ausstellungsbesucher trat ein Mann auf sie zu, wie eine Erscheinung aus jener Welt, in die sie gerade hinabgetaucht war. Groß und schlank wuchs er vor ihr aus dem Boden, gewandet in ein schwarzes Cape, hager, in aufrechter Haltung, ein Gesicht wie Cäsar, mit weißem Haar und doppelt so alt wie sie.
»Der Große Zaubere r …«, flüsterte sie.
»Wie bitte?«
Mit spöttischem Lächeln erwiderte er ihren Blick, die unglaublich hellen, fast kalten blauen Augen sezierend auf sie gerichtet. Laura erfasste ein Brennen, als hätte jemand ihr Innerstes entzündet. Ja, das war er, der Große Zauberer, von dem sie als Kind geträumt hatte: der Mann, der sie verwandeln würd e – der Mann, dem sie niemals begegnen durfte.
Unter Aufbietung ihrer ganzen Willenskraft fasste sie sich und erwiderte sein spöttisches Lächeln.
»Ja, ich erinnere mich«, sagte sie, »wenn auch nur flüchtig. Haben Sie nicht versucht, mich zu befriedigen?«
Für einen Moment schwoll sein schmales, römisches Gesicht an wie ein gigantischer Ballon, und statt ihr eine Antwort zu geben, explodierte seine Nase.
»Eine Erinnerung an meine Soldatenzeit im Krieg«, sagte er, nachdem er sich geschnäuzt hatte. »Bei der Inspektion einer Kanone hat mich der Rückstoß erwischt. Seitdem kommt es manchmal zu solchen Detonationen.«
»Und ich dachte schon, Sie wollten nachholen, was Sie damals versäumt haben?«, sagte Laura mit einem Grinsen.
Lachend reichte er ihr die Hand: »Darf ich mich vorstellen? Harry Winter.«
Bei der Nennung seines Namens zuckte sie zusammen. Mein Gott, das war der Mann, zu dessen Ehren die Ausstellung veranstaltet worden war! Der Schöpfer der Bilder an den Wänden, die den kahlen, schmucklosen Raum der Themse-Galerie in einen Tempel rätselhafter Zeichen und Symbole verwandelten! Der berühmt-berüchtigte Harry Winter!
Zögernd streckte sie ihm den Arm entgegen. »Laura Paddington.«
Mit ruckendem Vogelkopf trat er auf sie zu. Laura gab sich Mühe, das plötzliche Zittern ihrer Hand zu unterdrücken. Was würde passieren, wenn dieser Mann sie berührte? Vielleicht würde er sie in eine Kröte verwandeln, als Strafe für ihre Respektlosigkeit?
Bevor er ihr die Hand geben konnte, klingelte jemand mit einem Glas, und das Gesumm in der übervollen Galerie verstummte.
»Bitte entschuldigen Sie mich.« Mit bedauernder Geste deutete er auf die erwartungsvollen Gesichter ringsumher. »Meine Beerdigung kann offenbar nicht länger warten.«
»Ihre was ?«, fragte Laura.
»Meine Beerdigung«, wiederholte er. »Ich habe beschlossen, mich heute zu Grabe tragen zu lassen. Und ich würde mich freuen, wenn Sie mir die Ehre des letzten Geleits erweisen . – Aber das ist doch kein Grund, sich zu erschrecken«, fügte er hinzu, als er ihr Gesicht sah. » Mors porta vitae . Die Wiederauferstehung ist im Preis inbegriffen.«
2
»Na, hab ich zu viel versprochen?«
Geraldine, Lauras beste Freundin und Kommilitonin aus der Kunstakademie von Professor Bonenfant, führte sie durch das Gewühl der Vernissagegäste. Frauen in Kleidern, die tiefer ausgeschnitten waren, als die frühe Tageszeit erlaubte, standen neben demonstrativ gelangweilten Männern herum, die ausnahmslos so taten, als würden sie sich für die Bilder an den Wänden noch weniger interessieren als für die Dekolletés ihrer Begleiterinnen. Das Einzige, was sie miteinander zu verbinden schien, waren die Sektgläser in ihren Händen.
»Und was kommt jetzt?«, wollte Laura wissen, als Geraldine neben einer Säule stehen blieb, von wo aus sie auf eine kleine Bühne blicken konnten, auf der ein goldener Altar aus Pappmaché
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