Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
letzten ereignisreichen Tage unser vorwiegendes Gesprächsthema während des Essens. Jean konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal einen solch wundervollen Geburtstag erlebt zu haben. Im Restaurant befanden sich nicht viele Gäste. Etliche Pilger waren abgereist. Ich schaute in immer mehr Gesichter, die ich nicht kannte. Nach dem Essen wollten wir einen Spaziergang zum Meer unternehmen. Jean nahm den Zimmerschlüssel, um sich eine Jacke zu holen. Ich sprach noch kurz mit Gina, folgte dann Jean. Estibaliz’ Tochter wollte etwas zu mir sagen, wurde allerdings von ihrer Mutter gebremst, indem sie die Hand schleunigst auf ihren Mund legte. Sie grinsten mich beide an. Ich musste lachen, als ich die Treppe zum zweiten Stock hochging.
Einige Meter vor unserem Zimmer hielt ich inne, hörte Jeans Stimme aus der halboffenen Tür, in der Lachen, Weinen und Erstaunen zugleich lag. Als ich ins Zimmer trat, stand Jean fassungslos vor dem Bett. Ich nahm sie in meine Arme, schaute aufs Bett und konnte nicht glauben, was ich sah. Jemand hatte eine rosafarbene Bettdecke mit Spitzen aufs Bett gelegt. Auf ihr befand sich ein riesiges Herz aus Rosenblüten. Ein Pfeil, der durchs Herz verlief, war aus frischen roten Kirschen kreiert. In der Mitte vom Herz lag das Bild, das Estibaliz von Jean und mir im Restaurant in Lexa gemacht hatte. Unterhalb vom Herz, ebenfalls aus Rosenblüten war geschrieben: »Jean y Manolo«. Die Nachtschränkchen zierten verschiedenfarbige Kerzen. Vor dem Bett standen zwei Stühle und ein kleiner Tisch, auf dem sich ein Kübel mit einer Flasche Champagner befand, neben dem Süßigkeiten, Kirschen und Blüten ausgelegt waren. Auf dem Tisch lag eine roséfarbene Tischdecke, auf der sich eine festliche weiße befand. Unsere Rucksäcke, Wanderschuhe und alle anderen Sachen, die wir zuvor im Zimmer verteilt hatten, waren unter einer großen Tagesdecke auf dem Sofa so plaziert, dass sie das Gesamtbild des festlich geschmückten Raumes nicht störten.
Ich sah in Jeans Gesicht. Sie weinte vor Freude. Lange verharrten wir vor dem Bett, staunend, dass uns jemand so viel Liebe zuteil werden ließ. Natürlich war uns klar, dass dieser Jemand niemand anderes als Estibaliz sein konnte. Ich öffnete die Flasche und füllte zwei Gläser. Wir setzten uns auf die Stühle, tranken Champagner und starrten auf das Bett. »Unglaublich«, dachte ich. Selbst wenn ich mir irgendetwas in dieser Form gewünscht hätte, so schön hätte ich es mir nicht vorstellen können. Irgendwann stand ich auf und öffnete die Tür zum Badezimmer. Überall waren Blüten verstreut. Auf den Ecken der Badewanne lagen weiße Handtücher zu Blumen geformt. In den Handtüchern steckten Blumen. Kerzen standen auf der Badewanne. Ich rief Jean, sie stand auf, schmiegte sich an mich und schüttelte nur mit dem Kopf.
Das Frühstück musste lange auf uns warten. Estibaliz strahlte übers ganze Gesicht, als sie uns kommen sah. Wir drückten sie herzlich und bedankten uns für soviel Liebe, die sie uns mit diesem wundervollen Geschenk gegeben hatte. Estibaliz sagte Jean, dass ihre Tochter, die gemeinsam mit ihr das Zimmer geschmückt hatte, mir zugerufen hatte: »Es wird dir gefallen.« Nun wusste ich den Grund, weshalb sie ihr den Mund zugehalten hatte. Wir setzten uns zu Gina, die ebenfalls übers ganze Gesicht strahlte. Sie war natürlich über alles informiert. »Ihr gehört zusammen, Jean und du«, sagte Gina erneut zu mir. »Eure Seelen haben sich lange gesucht und hier in Finisterre gefunden.« Ich antwortete nicht, schaute sie nur an, trank Kaffee, aß meinen Toast und wunderte mich.
Jean hatte die Idee, für Estibaliz, die Ancora-Familie und Gina als Dankeschön Geschenke zu kaufen. Es hatte schon etwas Vertrautes, mit Jean händchenhaltend durch Finisterre zu spazieren. Für Estibaliz und ihre Familie fanden wir eine Orchidee, für Gina kauften wir Ohrringe und eine Rose. Als wir mit der Orchidee ins Ancora kamen und auf Estibaliz zugingen, verfiel sie in ein heftiges Weinen. Auch Gina, die ihrerseits Geschenke besorgt hatte, weinte, als wir ihr die Ohrringe gaben.
Solche Emotionen wie auf dem Camino hätte ich nie und nimmer für möglich gehalten. Es ist so überaus wertvoll weinen zu können. Immer wieder sind mir Pilger begegnet, die nach zwanzig oder mehr Jahren zum ersten Mal wieder geweint haben. Auch vor Freude.
Lange redeten, lachten und staunten wir. Nach dem Essen holten wir unsere Rucksäcke. Jean lag als erste in Estibaliz' Armen.
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