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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
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    1
     
     
     
    Februar 1320. Im sicheren Hafen
     
    Das mächtige Schiff lief in den Hafen von Lapethos ein. Es war voll beladen, im Frachtraum standen Fässer, Säcke und Karren dicht an dicht, darüber befand sich der Boden für die mitgeführten Pferde. Die Gäule hingen in Tragegurten, ihre Hufe berührten gerade noch die Bodenplanken. Die Leinen wurden ausgeworfen, dann kam der zitternde Schiffsleib zur Ruhe. Im gleichen Augenblick gingen Schwärme von Möwen auf Reling und Deck nieder. Die Matrosen schlugen mit langen Peitschen nach ihnen, und kreischend erhoben sich die Vögel wieder in die Luft und sprenkelten den strahlend blauen Frühlingshimmel.
    Henri de Roslin stand mit seinen Gefährten Sean of Ardchatten, Uthman ibn Umar und Joshua ben Shimon an der Reling. Madeleine kam vom Unterdeck herauf, wo sie sich um eine kranke Reisende gekümmert hatte.
    Die Gefährten schauten sich neugierig um, jede Ankunft hatte ihren eigenen Reiz. Kein Hafen glich einem anderen. Der hiesige zeichnete sich durch eine lange Mole aus, an der entlang schwarze, knarrende Holzkräne, die von Männern in Lauftrommeln angetrieben wurden, ihre Entladearbeit verrichteten. Am Ufer sahen die Freunde einen breiten Festungsbau aus dunklen Quadern, die kleine, uralte Stadt Lapethos duckte sich zu Füßen des dahinter aufragenden Gebirges, das rot leuchtete.
    Die Gefährten hegten unterschiedliche Gefühle, während sie die Landschaft und das bunte Treiben am Hafen bestaunten. Was erwartete sie in Zypern? Deca tremer, das europäische Abendland, war weit, im Osten lag das Heilige Land, von den Christen Frankreichs auch Outremer genannt, die Provinz jenseits des Meeres. Zypern war noch immer ein Knotenpunkt zwischen den Kulturen, Religionen und Kontinenten.
    Uthman und Henri waren beide schon auf Zypern gewesen. Joshua wollte von hier aus in den Nordosten der Insel reisen, wo es, wie er gehört hatte, eine versprengte jüdische Kolonie geben sollte. Außerdem war ihm der Besuch des Barnabas-Klosters, wonach Henri der Sinn stand, nicht geheuer, denn der Heilige sollte nach seiner Ankunft von zypriotischen Juden erschlagen worden sein. Uthman, Sean und Madeleine wollten hingegen bei Henri bleiben.
    Der schottische Tempelritter hatte sich während der Überfahrt entschlossen, zum Grab des Apostels Barnabas zu pilgern und sich einen lange gehegten Wunsch zu erfüllen.
    Henri fühlte sich Barnabas im Geiste verbunden. Der Apostel war nach Christi Tod von Paulus verstoßen worden – wie die Templer von ihrem geistigen Vater, dem Papst. Barnabas wurde aus der Stadt gejagt, denn er war das Opfer einer Verschwörung geworden. Und als solches fühlte sich auch Henri. Wie Barnabas trug er die tiefe Wunde der Ungerechtigkeit in seinem Herzen. Am Grab des unglücklichen Apostels wollte er Trost und Rat suchen und sein eigenes Unglück vergessen. Danach würde er sich vielleicht in der Lage sehen, zu entscheiden, wie es in seinem Leben weitergehen sollte.
    »Wir treffen uns auf der Karpasia-Halbinsel wieder«, sagte Joshua. »Dort gibt es ein Kloster, das dem heiligen Andreas geweiht ist und wo der vielleicht berühmteste christliche Kreuzfahrer, Richard Löwenherz, den Isaak Komnenos gefangen – aber das interessiert ja nun niemanden mehr. Ihr werdet mich dort im Kreis meiner jüdischen Brüder finden, wir werden für euch alle beten.«
    »Ich denke, wir werden in zwei Monaten bei dir sein, Joshua!«, sagte Henri.
    »Wo liegt diese Grabstätte des Barnabas?«
    »Das Kloster des Heiligen befindet sich bei Enkomi nahe der Hafenstadt Famagusta, es ist im Osten der Insel. Von dort ist es nicht weit bis zur Nordspitze Zyperns, man muss keine hohen Berge mehr überwinden. Erwarte uns in etwa acht Wochen. In diesen acht Wochen erfüllt sich auf Zypern die alljährliche österliche Freudenzeit, das Pentekoste. Danach werden wir gemeinsam das Pessahfest begehen können.«
    »Das wäre großartig!«, sagte Joshua.
    »Auch ich freue mich auf das österliche Fest zu Ehren eures wichtigsten Propheten. Danach werde ich euch allerdings verlassen, meine Freunde«, sagte Uthman.
    Die Gefährten blickten ihn bestürzt an. Dann sahen sie zu Madeleine hinüber. In ihrem Gesicht stand Trauer über die Unmöglichkeit ihrer Liebe zu Uthman. Es war ihr jeweiliger Glaube, Christentum und Islam, der die beiden unüberbrückbar voneinander trennte. Sie würden jeder ihren eigenen Weg gehen müssen. Madeleine überlegte, ob sie nicht vielleicht auf Zypern bleiben

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