Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
Dann war ich an der Reihe. Mit tränenerstickter Stimme sagte ich: »Muchas gracias.« Nachdem wir uns von Gina und der restlichen Ancora-Familie verabschiedet hatten, nahmen wir unsere Rücksäcke und machten uns auf den Weg zur Bushaltestelle. Ich setzte meine Sonnenbrille auf.
Als wir am Hotel Finisterre vorbei gingen, mussten wir lachen. An dem Restaurant gegenüber vom Hotel las ich: »Fin do Camino« (Ende des Weges). Ich war froh, als der Bus erschien. Wir stiegen ein, setzten uns, legten unsere Köpfe aneinander und hielten unsere Hände. Leise verabschiedete ich mich vom »Ende der Welt«, das Jean und mich zusammengeführt und reichlich beschenkt hatte.
Während der Busfahrt schaute ich auf das grüne Galicien. Ich liebte dieses Land, bekam heimatliche Gefühle, sah in Jeans blaue Augen, küsste sie, fühlte sie, hielt ihre Hand und war glücklich. Jean steckte mir einen ihrer Kopfhörer ins Ohr: »It’s a voice of an angel, it’s a presence of an angel«, hörte ich eine engelhafte Stimme, die meine Gefühle tief berührte. Ich verstand die Worte, schaute Jean an und hatte das Gefühl einen Engel neben mir zu haben. »My Irish Peregrina-Angel«, flüsterte ich ihr ins Ohr. Jene Musik hatte Jean auf ihrem Camino ständig begleitet.
Ich sah Eukalyptuswälder, die ich durchwandert hatte. Wir fuhren zurück ins normale Leben. Aber was war das normale Leben? War in der Pilgerschaft nicht mehr Natürlichkeit vorhanden, als in unserem hektischen, stressvollen Alltag? Ich wunderte mich, als der Bus Santiago erreichte. Irgendwie hatte ich die Fahrt kaum wahrgenommen. Wir stiegen aus, streckten unsere steifen Gelenke, nahmen unsere Rucksäcke und machten uns auf den Weg in die Innenstadt. Jean hatte ein Zimmer in einem Hotel reservieren lassen, das wir nach zwanzig Minuten Fußweg erreichten.
Unser Abendessen nahmen wir gemeinsam mit Jeans Pilgerfreundinnen aus Südafrika ein, mit denen sie sich Tage zuvor in Santiago verabredet hatte. Während die drei Frauen sich auf Englisch unterhielten, konzentrierte ich mich auf mein Essen. Ich verstand sowieso nicht viel und fühlte mich zudem müde von den ganzen Emotionen und Ereignissen der letzten Tage, die wie Riesenwellen über mich hereingebrochen waren. Vor der Kathedrale verabschiedeten wir uns nach dem Essen von Jeans Freundinnen und lauschten den Klängen einer Musikgruppe, die als letztes Lied »Guantanamera« spielte. »Soy un hombre Manolo«, fiel mir ein und ich musste lachen. Zwischen Jean und mir fühlte ich eine Vertrautheit und Harmonie. Trotz der Sprachbarriere gab es keinerlei Verständigungsschwierigkeiten. Vieler Worte bedurften wir nicht.
Jean fragte mich am nächsten Tag, ob ich meine Jakobsmuschel gegen die ihre eintauschen möchte. Es fiel mir zwar nicht leicht, doch gab ich ihr meine Muschel, die ich über 900 Kilometer durch Nordspanien getragen hatte. Im Pilgerbüro half Jean mir, einen Flug über Madrid nach Frankfurt zu buchen. Kurz vor zwölf stiegen wir die Treppe zur Kathedrale herauf. Es war erneut ein erhabenes Gefühl, dieses heilige Bauwerk zu betreten. In einem Seitentrakt setzten wir uns in eine Bank und beteten. Die Schwester sang voller Anmut, mit ihrer himmlischen Stimme, vom Camino.
Anschließend holten wir Jeans Rucksack und gingen zum Taxistand. Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz zerspringen würde. Wir heulten. »Buen camino, Mano«, brachte Jean hervor. »Buen camino, Jean.« Sie stieg ins Taxi. Alles lief ab wie in Zeitlupe. Der Wagen fuhr ab. Jean winkte mir, ich winkte zurück, dann war ihr Gesicht verschwunden.
Leere, nichts als Leere war in mir, als ich langsam durch Santiago wandelte. Ich nahm nichts mehr wahr, kam mir orientierungslos vor und wusste nicht, wo ich hingehen oder was ich machen sollte. Irgendwann fand ich mich in einer kleinen Bar wieder, bestellte Rotwein und trank. Im Fernsehen wurde eine Dokumentation über Schlangen gezeigt. Ich mochte Schlangen nicht, fühlte, dass mein Magen etwas Festes brauchte, ließ mir Tortilla und Brot bringen, trank mehr Wein, schaute auf den Bildschirm und dachte an meinen irischen Engel. Leute kamen in die Bar, redeten und rauchten Zigaretten. Ich zahlte und ging. Ging durch Santiago de Compostela. Ging durch die Stadt, die mein Pilgerziel gewesen war. Und nun? Was soll ich machen? Wie geht mein Leben weiter? Ich habe eine Frau gefunden, für die ich ehrliche, aufrichtige Gefühle habe.
Ich ging zurück auf mein Zimmer, legte mich ins Bett und schlief bald ein.
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