Ein perfekter Freund
als hätte er es nie vergessen.
Lucas hatte hier am Tisch gesessen, wie jetzt Norina. Er selbst stand. Sie stritten sich. Es ging um den LEMIEUX-Skandal, wie sie das Projekt nannten. Fabio hatte Lucas seinen Entschluß eröffnet, die Sache nicht weiterzuverfolgen. Lucas stellte sich stur, wie nur er das konnte. Hörte aufmerksam zu und antwortete dann auf jedes noch so überzeugende Argument mit dem immer gleichen Kopfschütteln.
Besonders, wenn das Argument mit Geld zu tun hatte.
Es war ein häßlicher Streit gewesen. Fabio hatte nichts ausgelassen. Hatte ihn verspottet, bedroht, beschimpft, ihm vor Augen gehalten, was er wäre ohne ihn. Und immer nur das gleiche bockige Kopfschütteln geerntet.
Schließlich schrie Fabio: »Leck mich am Arsch! Die Geschichte ist gestorben, ob du mitmachst oder nicht. Ich habe Barths Aufzeichnungen ausgehändigt!«
Und Lucas schrie zurück: »Und ich habe sie kopiert!«
Fabio war hinausgestürmt. Aber an der Weggabelung hatte er es sich anders überlegt, und er war zurückgegangen.
Vom Gartentor aus sah er Lucas mit einem Paket aus dem Haus kommen und unter der Veranda verschwinden.
Er rannte hin und sah, wie Lucas das Paket versteckte.
Er griff sich einen schweren Holzstiel und ging auf Lucas los. An dieser Stelle hörten seine Erinnerungen auf.
Wahrscheinlich hatte er Lucas unterschätzt.
Wie zur Feier von Fabios zweiter Erinnerungsinsel zerriß der Wind für einen Moment die Wolkendecke. Die tiefstehende Sonne beleuchtete die Schrebergartenkolonie wie eine Filmkulisse.
»Was ist mit dir?« fragte Norina. Fabio schaute auf. »Du bist schneeweiß.«
»Mir ist eingefallen, wo die Unterlagen sein könnten.« Als sie ins Freie traten, stiegen die ersten Raketen ungeduldiger Kinder in den jetzt wieder hellen Himmel. Im Garten von Frau Blatter führten eine Reihe Lampions an ihrer Schnur einen wilden Tanz auf. Der Wind knatterte im provisorischen Regenvordach.
Fabio ging voraus. Auch der Raum unter dem Haus hätte dringend entrümpelt werden müssen. Sie räumten eine Leiter weg, die den Zugang zum Obstfaß versperrte.
Das Faß besaß einen Deckel. Er war mit Backsteinen beschwert. Daneben lagen eine rostige Rebschere und eine schartige Handsichel.
Fabio räumte alles auf den Boden und hob den Deckel. Der Geruch von vielen Jahrgängen vergorenen Obstes schlug ihnen aus dem leeren Faß entgegen.
»Riechst du das?« fragte Fabio. »Wie die Zwetschgen im Korb. Ihr Geruch hat die Erinnerung hervorgerufen.«
Fabio lehnte sich über das Faß und streckte seinen Arm hinein. Seine Fingerspitzen berührten etwas. Er bekam es zu fassen und zog es heraus.
Es war ein schwarzer Müllsack mit einer schweren Schachtel.
Die einzige Lichtquelle des Raumes war eine Glühbirne, die über dem Tisch baumelte. Die Überreste des Lampenschirms, der einmal dazugehörte, hatten sie zwischen dem Gerümpel unter der Veranda liegen sehen.
Seit drei Stunden studierten Fabio und Norina die Aufzeichnungen von Doktor Barth. Die meisten waren mit Klebenotizen versehen, auf denen in Lucas' Handschrift erläutert war, was sie bedeuteten. Was immer jemand gegen die Untersuchungsmethode einwenden wollte, die Beweislage schien erdrückend.
Sie saßen nebeneinander und gingen Blatt für Blatt durch. Draußen knallten vereinzelte Feuerwerkskörper wie Schüsse aus den letzten Widerstandsnestern eines längst eroberten Landes. Schon seit einer Weile hatte Norina den Kopf auf Fabios Schulter gelegt.
Als sie das letzte Blatt begutachtet, mit der Vorderseite nach unten auf seine Vorgänger gelegt, den ganzen Stoß zurechtgeklopft und in seine Schachtel zurückgelegt hatten, stellten sie sich ans Fenster und schauten dem Flackern und Blitzen und Funkeln zu, das die stürmische Nacht durchzuckte.
Und dann, ohne weitere Umstände, küßten sie sich, halfen sich langsam aus den Kleidern und machten sich im engen, knarrenden Kajütenbett daran, andere, schönere, Erinnerungen aufzufrischen.
Der Himmel hatte ein Nachsehen und hielt sich zurück, während über dem See das große Feuerwerk gezündet wurde. Fabio und Norina blieben eng aneinandergeschmiegt unter der karierten Decke liegen. Nur die höchsten, hellsten , grandiosesten Bouquets erreichten ihr Blickfeld, bevor sie verglitzerten, verflimmerten und verglimmten.
Jetzt!, dachte Fabio.
»Fabio«, flüsterte Norina.
»Hamm?«
»Der vergessene Fabio…«
»Ja?«
»Ich glaube, ich könnte ihn auch vergessen.«
Fabio zog Norina fester an sich. Ein
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