Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
Vom Netzwerk:
seien weit davon entfernt, gute Freunde zu sein, das hatte er am vergangenen Sonntag gesagt. Sicher dachte er nun an die Tische der Geldverleiher.
    »Es sind Spendengelder«, sagte sie. »Für die Hungernden in Afrika.«
    »Diese Kampagne ist seit einem Monat zu Ende«, sagte er. »Vielleicht ist es eher für die Hilfsorganisation St. Vincent de Paul? Für die sammeln wir gerade.«
    Shell schüttelte den Kopf, wie um zu sagen, dass sie es nicht wusste.
    »Dein Vater. Er sammelt das Geld in seiner Freizeit, nicht wahr?« Das Geld klimperte immer noch. Shell starrte voller Verzweiflung auf Pater Roses Füße und stellte schockiert fest, dass sie nackt waren. Seine schwarzen Priesterhosen endeten knapp oberhalb seiner weißen, langen Zehen.
    »Er hat nur freie Zeit«, stammelte sie. »Er ist arbeitslos.«
    »Arbeitslos?«
    »Seit unsere Mutter gestorben ist. Er hat die Arbeit drüben auf dem Hof der Duggans aufgegeben, wegen seinem schlimmen Rücken.« So zumindest hatte Dads Begründung gelautet.
    »Seine Arbeit ist es, sich um das Haus zu kümmern und dir, deinem Bruder und deiner Schwester Mutter und Vater zu sein, oder nicht?«
    »Ich denk schon.« Sie hätte sagen können, dass sie selbst das meiste davon tat.
    »Er ist ein frommer Mann, dein Vater. Das hat mir jedenfalls Pater Carroll erzählt.«
    Shell zuckte mit den Schultern. »Ich denk schon.«
    »Möchtest du hereinkommen und vielleicht etwas trinken? Nora macht Besorgungen in der Stadt, aber ich finde schon etwas für dich.«
    Shell nickte. Er trat nicht beiseite. Stattdessen wurde sein Arm zu einer langen Brücke, unter der sie hindurchgehen konnte, durch die offene Tür. Als sie es tat, achtete sie darauf, ihm nicht aus Versehen auf die nackten Zehen zu treten. Der Geruch des gewebten Wollteppichs und das schwere, samtweiche Ticken der großen Wanduhr bewirkten, dass sie sich vorkam wie ein Kleinkind.
    »Hier entlang, Shell«, sagte er.
    So wie er ihren Namen aussprach, klang es wie eine Segnung.
    Pater Rose öffnete die Tür zum besten Zimmer, ganz vorn, wo Shell zuvor noch nie gewesen war. Er bot ihr einen Platz auf einem riesigen Ledersessel an, dann holte er ein geschliffenes Glas aus einer Vitrine und nahm eine kleine Flasche Bitter Lemon von einem Getränkewagen.
    Bis zu diesem Moment hatte Shell Bitter Lemon nie gemocht. Aber als sie nun daran nippte, bizzelte es wie Brausepulver gegen Nase und Lippen und rann, süß und sauer zugleich, über ihre Zunge. Pater Rose stützte sich auf die Lehne des zum Sessel passenden Ledersofas, während sie trank. Er verschränkte die Arme, schaute ihr zu und lächelte. Eine träge Wärme erfüllte den Raum.
    »Ich war froh, als du geklingelt hast«, sagte er.
    »Warum denn, Pater?«
    »Ich hatte eine Auseinandersetzung.«
    »Eine Auseinandersetzung?«
    »Mit mir selbst. Ein furchtbares Verlangen nach Zigaretten.«
    Shell gluckste. Seine Predigt fiel ihr wieder ein. »Sie rauchen doch nicht wieder?«
    »Die ganze Fastenzeit über nicht, hoffe ich. Gebe Gott, dass ich es bis Ostern durchhalte.«
    »Und dann wollen Sie wieder anfangen?«
    »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Schlimm, diese Zigaretten. Sie halten einen gefangen. Versprich mir, dass du gar nicht erst anfängst, ja?«
    Sie wollte nicht sagen, dass sie schon ein paarmal geraucht hatte. Declan Ronan reichte in der Schule manchmal eine weiter, abwechselnd an sie und an Bridie: Ein Zeichen der Anerkennung, witzelte er immer, für die Gründungsmitglieder seines Harems.
    »Es ist hoffentlich nicht schlimm, wenn ich frage«, sagte Pater Rose, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Aber müsstest du nicht in der Schule sein?«
    Shell hielt das Glas vor ihr Gesicht und schaute durch den Diamantenschliff. »Schule?«, sagte sie. »Die ist fast vorbei. Bald sind Ferien.«
    »Verstehe.« Er erhob sich und durchschritt den Raum. Vor dem Flügelfenster hielt er inne und blieb eine ganze Weile stehen.
    »Neulich, an dem Morgen«, sagte er, Shell den Rücken zugewandt. »Auf dem Acker. Weshalb hast du zugelassen, dass deine Geschwister dich so mit Steinen bewerfen?«
    Shell verschluckte sich fast an ihrer sprudelnden Limonade.
    »Als ich den Hügel heraufkam«, fuhr er fort, »sah ich dich dort mit ausgestreckten Armen stehen.« Er drehte sich um und sah sie an.
    Ihr Blick wanderte hinüber zu der Vase mit den Seidenblumen, die im Kamin stand. Sie trank den letzten Schluck.
    »Einen Moment lang dachte ich, es wäre eine Erscheinung«,

Weitere Kostenlose Bücher