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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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schweren Wolken brach, konnte sie ihn und den Wagen kaum erkennen. Er hatte das Fenster heruntergekurbelt.
    »Wir haben nur Quatsch gemacht!«, brüllte Jimmy und ließ den Stein fallen, dann rannte er den Hügel hinab davon.
    Pater Rose sah Shell an. »Was hat denn das hier zu bedeuten?«, fragte er.
    Shell zuckte mit den Schultern.
    »Du bist das Talent-Mädchen, nicht wahr?«
    Sie nickte.
    »Wie ist dein Vorname?«
    »Michelle. Aber alle nennen mich nur Shell.«
    Er nickte zurück und ließ den Motor an. »Bis dann, Shell.« Sie dachte, er würde noch irgendetwas hinzufügen, doch stattdessen seufzte er, löste die Handbremse und fuhr an, den Hügel hinauf. Sie blinzelte. Der Wagen blitzte violett auf, als er in der Kurve verschwand.
    Shell setzte sich auf die feuchte Erde und atmete heftig aus. Sie strich über die klumpigen Steine der Pharisäer, die von ihrem sterblichen Körper abgeprallt waren. Wer unter euch ohne Sünde ist, murmelte sie, der werfe den ersten Stein. Sie nahm den letzten Stein, den Jimmy sich nicht zu werfen getraut hatte, und kühlte damit ihre Wange. Dann ließ sie sich nach hinten sinken, lag reglos am Boden. Der kalte Frühlingsmorgen drang ihr bis in die Knochen.

Drei
    Schon bald darauf begegnete sie Pater Rose erneut.
    Dad hatte für die hungernden Länder Afrikas gesammelt. In der einen Woche waren es Flutopfer irgendeines Subkontinents, in der nächsten Flüchtlinge irgendeines kleineren Kriegsschauplatzes, doch am Wochenende verschloss er das Geld immer in einem Briefumschlag und trug Shell auf, es zum Haus des Pastors zu bringen. Es war die einzige Aufgabe, die sie mochte – erstens weil sie sich immer ein paar Pence nahm, um bei McGrath’s ein bisschen Weingummi zu kaufen, und zweitens weil sie, wenn Nora Canterville, die Haushälterin des Pastors, ihr öffnete, jedes Mal ein Stück Kaffeewalnusstorte bekam.
    Bevor sie aufbrach, packte Dad sie am Arm. »Wenn du auch nur einen Penny stiehlst, werde ich es erfahren. Pater Carroll wird es mir erzählen und dann bricht die Hölle los!«
    »Ja, Dad. Ich weiß Bescheid.«
    Sie wusste wirklich Bescheid. Die Summe, die er sammelte, war jedes Mal höher als die, die er ablieferte. Sie mochte eine Diebin sein, er aber übertraf sie bei weitem. Shell hatte gesehen, wie er die größeren Geldstücke stibitzte, sogar Scheine, und sie sich in die eigenen Taschen steckte. Der Mann war gierig wie eine Blut saugende Mücke. Wenn er ihr das Geld für den Wocheneinkauf gab, packte er sie am Handgelenk und verlangte, dass sie ihm das Wechselgeld bis auf den letzten Penny und jeden einzelnen Beleg nach Hause brachte. So was wie Taschengeld gab es bei ihnen nicht. Und seit Mums Tod hatte er Shell, Jimmy und Trix ständig dieselben Schuluniformen tragen lassen, drei Nummern zu groß, um keine neuen kaufen zu müssen, wenn sie aus den alten herausgewachsen sein würden. Sie waren die Vogelscheuchen-Schüler, die Witzfiguren der Gegend. In Shells Schule gab es ein Spottlied auf sie, dank Declan Ronan, dem grässlichsten Messdiener von Coolbar und besten Schüler des Abschlussjahrgangs:
Shell ist fies wie Dornenhecken
und Tomatensuppenflecken,
ihr Eierduft ist zum Erschrecken,
ihr Fetthaar schleimiger als Schnecken.
    Trotz all seiner Sammelaktionen für gute Zwecke: Ihr Vater hatte ein Herz wie eine schwarze schrumpelige Walnuss.
    Das Niederträchtigste, wobei Shell ihn je beobachtet hatte, war, wie er den Ring von Mums Leiche stahl. Sie hatte nur diesen einen Ring besessen, den aus Gold an ihrer linken Hand, der besagte, dass sie seine Frau war. Wenn verheiratete Frauen starben, so viel wusste Shell, begrub man sie mit ihrem Ehering, damit sie ihre Liebe und Treue mit ins Grab nehmen konnten. Dort blieben die Ringe dann bis zum Ende aller Tage, überdauerten das tote Fleisch, selbst die Knochen.
    Doch ihr Vater konnte die Vergeudung eines so guten Stücks aus gelbem Gold nicht einfach so mit ansehen. Als Mum zuletzt immer schwächer geworden war, hatte der Ring sich gelockert. Und kurz bevor man den Sargdeckel schließen wollte, hatte Dad gesagt: »Bitte: Nur noch ein letztes Gebet, ein letzter Abschied, nur ich und sie.« Alle hatten ihn allein gelassen. Alle außer Shell. Draußen, vor der Tür, die nur angelehnt gewesen war, blieb sie stehen und spähte durch den Spalt. Sie sah, wie er eine Reihe des milchweißen Rosenkranzes von der Hand ihrer Mutter wickelte. Und sie nahm ein kurzes gelbes Aufblitzen wahr, das in Dads oberer Westentasche

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